Auf den frühen Spuren des Faschismus
von Daniel Paredes
Michael Haneke ist ein äusserst detaillierter, handwerklich perfekter Historienfilm gelungen, der das drohende faschistische Unheil Deutschlands in einem protestantischen Dorf bereits um 1913/1914 im Keim beobachtet und das höchste Mass an Authentizität beansprucht.
Der deutsch-österreichische Regisseur und Drehbuchautor Michael Haneke hat sich wie kaum ein anderer Filmemacher mit dem Entstehungsprozess von Gewalt beschäftigt. Meist als stiller Beobachter, der die langsame Entwicklung überbordender Aggression als gesellschaftliches Phänomen verfolgt. Viele seiner Protagonisten sind der Stumpfsinnigkeit verfallen und es fehlt nur der letzte Tropfen, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Wesentlich Schuld für die Vergletscherung der Gesellschaft sind bei ihm häufig die Medien – allen voran das Fernsehen. Der Regisseur verzichtet dabei meistens auf Lösungsvorschläge und lässt den Zuschauer mit offenen Fragen zurück, weswegen seine Filme als schwere Kost gelten, empören und nachdenklich stimmen. Filme wie Benny`s Video (1992), Funny Games (1997) und La pianiste (2001) sind ebenso faszinierend in ihrer Machart wie schockierend in ihrer Schonungslosigkeit. In seinem neusten Werk, für das er in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, geht es ebenfalls um ein mit Gewalt eng verbundenes Phänomen. Anders als in seinen meisten Filmen wird in Das weisse Band das überlaufende Fass aber nicht in einem blutigen Schlussakt visualisiert; dafür ist der nicht mehr ferne Nationalsozialismus zu tief in unserem historischen Bewusstsein verankert: Der Film bebildert den angsterfüllten, repressiven Alltag in einem protestantischen Dorf im Nordosten Deutschlands und endet mit dem Beginn des ersten Weltkriegs, der den Leuten als nahezu willkommener Ausweg erscheint.
Als Strafe für ihre Ungezogenheit müssen die Kinder des Pfarrers hungrig zu Bett gehen, und sich über ihre Missetaten Gedanken machen, bevor sie am nächsten Tag mit der Rute zehn Schläge erteilt bekommen. Das älteste Mädchen und der älteste Junge erhalten das (titelgebende) weisse Band ins Haar geflochten bzw. um den Arm gebunden – es soll sie an ihre Unschuld erinnern, die sie mit ihrem Verhalten beschmutzt haben und sie anspornen das Vertrauen ihrer Eltern zurückzugewinnen. Zucht und Ordnung. Rückblickend werden die merkwürdigen Ereignisse im Dorf, bestehend aus einer Kirche, einer Schule, mehreren Bauernhöfen, Sägewerken und dem Gutshof des Barons, vom Dorflehrer als Off-Stimme chronologisch erzählt. Wie er sagt, könnte die Geschichte ein wenig Aufschluss über die späteren Ereignisse in Deutschland geben, die als dunkelstes Kapitel in die neuzeitliche Geschichte Europas eingehen werden. Alles beginnt mit dem Reitunfall des Doktors. Ein kaum sichtbares Drahtseil – gespannt zwischen zwei Bäumen – bringt den Mediziner und sein Pferd zu Fall, und beinahe auch ums Leben. Fortan häufen sich die Unfälle und Gewalttaten in der kleinen Gemeinde: Eine Bäuerin verunglückt tödlich im Sägewerk, der Sohn des Barons wird in den Wald verschleppt und misshandelt, eine Scheune wird angezündet, das behinderte Kind der Hebamme wird beinahe Blind geschlagen und so fort. Gemeinsam ist diesen rätselhaften Ereignissen, dass sie alle ungesühnt bleiben, denn der Täter bekennt sich nie seiner Schuld und wird trotz auswärtiger Polizeihilfe auch nicht gefasst.
Was durchaus eine Whodunit-Geschichte hätte werden können, entwickelt sich zu einer analytischen Beobachtung der dörflichen Aussen- und familiären Innenwelt der Gemeinde. Dabei sind die Ereignisse im Dorf nur eine Veräusserlichung der autoritär unterkühlten Familienverhältnisse, wo Aggression und Angst gesät wird. Grosse Werte wie Disziplin, Vertrauen und Ehrfurcht haben längst groteske Formen angenommen und führen zu Misstrauen gegenüber den Nächsten, Depression, Inzucht und purer Böswilligkeit. Die Opfer dieser Missstände sind die schweigenden Kinder. Früh deutet der Lehrer auf das seltsame Benehmen einer kleinen Gruppe von Mädchen hin. Anders als andere Kinder, die nach der Schule wild umher springen, bleiben diese Mädchen auch nach dem Unterricht eine unheimliche Einheit und gehen in einer Reihe nebeneinander durch das Dorf. Sind sie für die merkwürdigen Geschehnisse verantwortlich? Gut kann man sich vorstellen, wie diese Kinder als Erwachsene es ihren Eltern gleichtun und bei Ungerechtigkeiten, die anderen widerfahren, wegsehen, um ihre eigenen Familiengeheimnisse unter den Tisch zu kehren und verblendet zu einer manipulierbaren Masse verschmelzen. Dieses Wissen über die Zukunft der Kinder verleiht dem Film seine ungeheure Schwere.
Das weisse Band ist eine Präzisionsarbeit geworden – Hanekes Opus Magnum. Seine schnörkellose, extrem genaue Filmsprache, die bei seinen anderen Filmen nicht immer auf Verständnis stiess, passt perfekt zum Thema und der historischen Rahmung. Dabei unterscheidet sich der Film von früheren Werken: Zum ersten Mal nimmt Haneke sich einer historischen Geschichte an und filmt in Schwarzweiss. Diese neuen Merkmale passen vortrefflich zu seinem Stil: Oft beobachtet die statische Kamera nur und lauscht den Dialogen, die sich entfalten müssen. Es sind Gespräche, die man heute kaum mehr führt; Wörter, die man kaum mehr hört. Dies verleiht dem Film ein anderes Zeitverständnis, so wie es damals war – nicht heute. Der Zuschauer muss sich an dieses andere, langsamere Zeitgefühl gewöhnen, wird dadurch aber unweigerlich in die Geschichte eintauchen. Unterstützt wird dieses Eintauchen durch faszinierende Schwarz-Weiss-Texturen, die unserer Wahrnehmung von dieser Zeitperiode – durch Filme und Fotos – entsprechen. Bestärkt wird die beeindruckende Historizität des Films auch durch die Physiognomie der Darsteller. Auf der Suche nach zeitgenössischen Gesichtstypen, hat man während eines aufwändigen Castings Kindergesichter gefunden, die man heute nur noch selten sieht. Durch diese eindrückliche Ästhetik und die ausgezeichneten Darsteller wirkt der Film wie ein beängstigendes, authentisches aber auch aufschlussreiches Zeitdokument.
[kkratings]
[hr]
[box border=”full”]
Das weisse Band (2009)
Originaltitel: –
Land: Österreich, Deutschland, Frankreich, Italien
Regie: Michael Haneke
Drehbuch: Michael Haneke
Schauspieler: Susanne Lothar, Ulrich Tukur, Burghart Klaußner, Mercedes Jadea Diaz, Josef Bierbichler, Marisa Growaldt u.a.
Musik: Jaro Messerschmidt, Nik Reich, Ralf Wengenmayr
Laufzeit: 144 Minuten
Start CH: 22.10.2009
Verleih: Filmcoopi
Weitere Infos bei IMDB[/box]
[hr]
©Filmcoopi
©Filmcoopi[hr]
Leave a Reply