(erschienen in: Deadline – Das Filmmagazin 05/2009)
NEUCHÂTEL INTERNATIONAL FANTASTIC FILM FESTIVAL (30. Juni – 5. Juli 2009)
Die neunte Ausgabe des „Neuchâtel International Fantastic Film Festival“ ging bereits in der ersten Juliwoche über die Bühne und hatte mit ANTICHRIST einen echten Publikumsmagneten am Start. Lars von Triers Horror-Drama war zwar Teilnehmer am Internationalen Wettbewerb, lief aber dennoch irgendwie in einer ganz eigenen Kategorie. Die Festival-Jury mit Bong Joon-ho (Regisseur), Joko Anwar (Regisseur), Gerard Soeteman (Drehbuchautor), François Angelier (Journalist) und Erika Stucky (Sängerin/Performerin) richtete ihr Augenmerk entsprechend besonders auf jene Beiträge, die im Vergleich etwas weniger provokant zu Werke gingen und nicht bereits im Voraus für ein grosses Medienecho sorgten.
Neben dem rätselhaften Gothic-Fantasy-Abenteuer Franklyn und dem hommageträchtigen Science-Fiction-Drama Moon belegte Fish Story von Yoshihiro Nakamura eher eine Aussenseiterrolle mit guten Chancen auf eine spezielle Erwähnung. Bereits mit dem Titel und dessen stimmigen Übersetzung wird jenes Ammenmärchen angekündigt, das von der Geschichte eines legendären Punk-Songs aus dem Jahr 1975 erzählt, der über einige Umwege die Erde – natürlich 2012 – vor dem Einschlag eines Kometen retten wird. Die Handlung beginnt mit dem erwarteten Weltuntergangsszenario in einem altmodischen Plattenladen, in dem ein Verkäufer und ein Kunde unerschrocken die Stellung halten und über eine Band fachsimpeln, die mit ihrem musikalischen Stil der damaligen Zeit weit voraus war. In Flashbacks wird sowohl von der Entstehungsgeschichte des Songs „Fish Story“, wie auch von der mysteriösen stillen Passage erzählt, die Jahre später noch abergläubische Studenten in Angst und Schrecken versetzen wird. Auf der Leinwand herrscht dabei inhaltlich ein geordnetes Durcheinander, das mit der Geschichte über ein Schulmädchen und einen Superhelden bereichert wird. Zum Schluss werden alle zerstückelten roten Fäden innerhalb weniger Sekunden verdichtend stimmig zu einem einzelnen Strang geknotet. Dieses fulminante Zeitraffer-Finale setzt dem sowohl vergangene wie auch aktuellere Popkultur zitierenden, stellenweise urkomischen Film, das Sahnehäubchen auf. Kein Wunder kam FISH STORY nicht nur beim Publikum sehr gut an, sondern wurde denn auch mit dem H.R. Giger-„Narcisse“-Preis als bester Film des Festivals ausgezeichnet.
Ebenfalls im Internationalen Wettbewerb kämpfte mit Tears for Sale ein ambitionierter Fantasy-Western, der mit einem Budget von über 4 Millionen Euro als bis dato teuerster Film in die Geschichte Serbiens eingehen wird. Auch wenn der Film mit seinen CGI-Effekten optisch etwas überladen wirkt und die Darstellerinnen in burlesker Mode Schaulaufen, so überrascht das Märchen für Erwachsene mit seiner selbstironischen und mutigen Kritik an einem kriegsgebeutelten Land. Der Film erzählt von einem fiktiven Bergdorf, dessen Männer allesamt auf dem Schlachtfeld verendet sind und bis auf einen alten Opa nur noch aus Frauen besteht. Als der alte Mann durch ein Missgeschick ebenfalls das Zeitliche segnet, werden die beiden Schwestern Ognjenka und Boginja losgeschickt, um neue Männer für die feurigen Frauen zu suchen. Es entwickelt sich ein durchwegs amüsantes Abenteuer das sich allerdings nicht immer zwischen Dramaturgie und Spektakel entscheiden kann.
Gewohntermassen richtet das NIFFF sein Augenmerk auch stets auf das aktuellere asiatische Kino. Park Chan-wooks THIRST war zwar nicht im Programm vertreten, dafür wurde dem Publikum ein bunter Genre-Mix aus Hong-Kong, Japan, Malaysia, Thailand und Indonesien geboten. Mit Cyborg She zum Beispiel ein Film über den Besuch eines weiblichen Cyborgs aus der Zukunft, der romantisch und mit viel Witz beginnt, bald darauf aber mit extremer Überlänge zu kämpfen hat. Die optischen Effekte rücken in den Vordergrund, können die grossen Logiklöcher in der Geschichte aber nicht vertuschen. Schweres Geschütz wird mit Queens of Langkasuka aufgefahren. Das schwülstige Fantasy-Epos punktet mit sehenswerten Martial Arts-Kämpfen und imposanter Kulisse, krankt aber etwas an seiner klischeehaften, zu langgezogenen Geschichte über Gut und Böse. Wie man eine altbackene Geschichte neu und interessant verpacken kann, zeigte dafür The Handsome Suit. Die Verwechslungskomödie im Stile eines The Nutty Professor kam besonders beim Publikum gut an und erhielt sogar den Preis als „Bester Asiatischer Film“. Der eigentliche Publikumspreis ging jedoch an den Film Connected von Benny Chan, der sich etwas unkonventionell an einem Hollywood-Remake (Cellular) versucht. Was ganz belanglos beginnt, entwickelt sich zu einem rasanten Thriller im Stile des grossen Action-Kinos. Wilde Verfolgungsjagden, heikle Cliffhanger, amüsante Szenen und unangenehme Verwechslungsmomente garantieren erstklassige Unterhaltung.
Während im letzten Jahr keine Animes am NIFFF zu sehen waren, so wurde diesmal zumindest Mamoru Oshiis The Sky Crawlers gezeigt. Die etwas aus einem grösseren Zusammenhang geschnittene Geschichte über die jugendlichen „Kildren“, die in den Kampf gegen einen unsichtbaren Feind geschickt werden, überzeugt und steckt voller philosophischer Fragen nach dem Sinn und Zweck des Seins. Viel bodenständigeren Fragen geht die 8-jährige Mary im Stop-Motion-Film Mary&Max nach. Sie weiss, dass kleine Babys in Australien in Biergläsern gefunden werden und fragt sich, ob diese in den USA denn aus Cola-Dosen schlüpfen. Also schlägt die Tochter einer Alkoholikerin eines Tages das Telefonbuch auf und schickt ihren Brief voller kindlicher Neugier an eine zufällige Person. Empfänger ist Max Jerry Horrovitz in New York. Der übergewichtige ältere Herr liebt Schokolade und hat mit extremen Angstzuständen zu kämpfen. Die tragikomische Geschichte über zwei Aussenseiter von Adam Elliot (Harvey Krumpet) ist ergreifend menschlich und lässt kein Auge trocken.
Neben diesen skurrilen und abwechslungsreichen Festival-Beiträgen ging es am NIFFF auch wieder düster, erschreckend und blutig zur Sache. (aus)
Die Horrorfilme: Wenn Kinder Blut lecken…
Der letztjährige Gewinner („Silberner Méliès“) – Let the Right One In – hat Spuren hinterlassen. Das äusserst überzeugende Vampir-Drama, dem auch hierzulande gebührende Beachtung geschenkt wurde, beeindruckte durch seine talentierten Jung-Darsteller und mit der „kindlichen“ Perspektive auf ein unsterbliches Sujet. Dieses erfolgreiche Konzept im Hinterkopf habend, scheinen die Veranstalter bei der Abgrasung aktueller Horrorblüten, ihr Hauptaugenmerk auf grosse Augen und kleine Körper gelegt zu haben: Winzlinge, die ihre Eltern massakrieren; ein Baby, das mit Blut gestillt werden muss; misshandelte, schreiende, tote Kinder, und und und – Kinder waren in der Horror-Auswahl des Filmfestivals allgegenwärtig, nur im Publikum sah man sie nicht.
Dass der „Kinder-Horror“ jedoch nichts vollkommen Neues ist und sich mit Klassikern wie Children of the Damned, Children of the Corn oder Ein Kind zu töten… längst in die Annalen des Genres eingeschrieben hat, wurde anerkannt. Am deutlichsten merkte man dies beim britischen Beitrag The Children, der bereits im Titel an die Vorbilder anspielt. In diesem kurzweiligen „Kinder-Spass“ feiert eine Familie das Weihnachtsfest in einer abgelegenen Waldhütte, wo sich der Nachwuchs mit einer sonderbaren Substanz infiziert und immer merkwürdiger verhält: mit einem unschuldigen Lächeln fallen sie schliesslich blutlustig über ihre Erzeuger her. Trotz der kurzen Laufzeit gelingt es Regisseur Tom Shankland den Kindern die nötige Ambivalenz zu verleihen – süss aber tödlich. Die fiesen Bluteffekte – u.a. ein von den Kids bitterbös eingefädelter Schlittenunfall (!) – bilden das Herzstück des Films.
Weniger Blut, dafür umso verstörendere Bilder und eine einzigartige Gruselatmosphäre, gab es in Lars von Triers Meisterwerk Antichrist zu sehen: Nach dem Tod ihres Kindes zieht sich das traumatisierte Ehepaar in seine Waldhütte zurück. Der Mann, ein Psychiater, startet hier den Versuch die eigene Frau zu therapieren, um ihre Trauer über den Kindstod zu schmälern. Das Enfant terrible Von Trier sprengt mit seinem Skandalfilm die Konventionen des Horrorgenres und nimmt sich die Freiheit Sex und Gewalt aufs Extremste zu kombinieren. Von Trier rüttelt mit drastischen Bildern an religiösen und philosophischen Grundsätzen und stellt kontroverse Fragen wie: Was wenn die Natur substanziell böse ist? Am Ende klatschten die Festivalbesucher frenetisch, während der Vorführung aber hörte man mehrmals schockiertes Aufstöhnen.
Ein starker Beitrag liess sich auch aus Indonesien vernehmen: Joko Anwar, der bereits letztes Jahr mit Kala in Neuenburg vertreten war, präsentierte nun sein neues Werk The Forbidden Door. Der sympathische Regisseur, der nach der Vorführung über die Zensur in Indonesien plauderte, wo Gewaltdarstellungen kaum anecken, emanzipierte Frauenfiguren aber die Behörden echauffieren, erinnert inhaltlich an Filme wie Videodrome und weiss inszenatorisch zu überzeugen. Eine geheime Tür und eine ebenso geheime Gesellschaft, deren Mitglieder sich als Voyeure über das Leid anderer am Bildschirm ergötzen, sind die Kernelemente des Films, dessen Hauptfigur Licht in das mysteriöse Dunkel zu bringen versucht, dabei aber auf seine eigene Kindheit stösst. Am Ende mündet der Film in einer blutigen Gewalteskalation
Selbst als Lückenfüller kaum brauchbar, erwiesen sich die diesjährigen Vertreter des Slasherfilms: Histeria aus Malaysia und Tormented aus England. Beide haben direkt nichts mit Kindern zu tun, allerdings mit Jugendlichen, die höchst kindisch agieren und keine Sympathien wecken. Insbesondere der malaysische Film, der von einer Gruppe kreischender Schulmädchen handelt, die den Teufel beschwören, zum Nachsitzen verdonnert werden und nach und nach ihr Leben lassen, erwies sich als derart dilettantisch und talentfrei, dass mancher Zuschauer den Saal vorzeitig verliess. Auch Tormented war ein mühsames Abklappern hundertfach gesehener Genre-Muster. Die austauschbare Handlung spielt ebenfalls im Umfeld von Schülern, die in diesem Fall einen übergewichtigen Mitschüler zu Tode mobben, und dann von dessen Geist heimgesucht werden. Immerhin sind die stereotypen Figuren teils so überzeichnet, dass manche Szenen, wenn schon nicht gruselig oder spannend, komisch anmuten.
Wesentlich intelligenter und spannender war Grace; ein Film, den werdende Eltern dringlichst meiden sollten: Trotz des Unmuts ihrer Schwiegermutter hält die schwangere Madeline an ihrem Wunsch einer natürlichen Geburt fest. Ein schwerer Verkehrsunfall kostet ihrem Mann und beinahe auch dem Ungeborenen das Leben. Nachdem das vermeintlich tote Mädchen zur Welt kommt, staunen die Beteiligten nicht schlecht, als die kleine Grace plötzlich erwacht. Doch sie ist anders als andere Babys, denn sie hat einen unstillbaren Durst nach Blut. Grace ist ein psychologischer Horrorthriller, der dank glaubwürdigen Figuren und seiner Rahmenthematik der „natürlichen Geburt“ genügend Selbstdynamik entwickelt, um bis zum spannungsgeladenen Finale zu fesseln – ein Geheimtipp.
Der Silberne Méliès wurde in diesem Jahr an den belgischen Film Left Bank von Pieter Van Hess verliehen. Die Entscheidung ist nachzuvollziehen, traf der Film nicht nur den Nerv des unangepriesenen Oberthemas, sondern entpuppte sich auch als gut gespieltes Coming-of-Age Drama mit Tendenz zu Okkult-Schockern à la Rosemary`s Baby: Als Opfer einer Infektion muss die junge Athletin Marie sportlich eine Zwangspause einlegen. Sie zieht zu ihrem neuen Freund Bobby ins Linkeroever-Quartier (Originaltitel: Linkeroever), was ihr zunächst gut tut. Das Blatt wendet sich, als Marie erfährt, dass Bobbys Vormieterin spurlos verschwunden ist und ihr neuer Wohnort elende Gefühle in ihr auslöst, die sich auf ihren Körper auswirken. In dunklen Bildern und im mythologisch aufgeladenen Umfeld eines urbanen Aussenbezirks, fokussiert Van Hess den Identitätsverlust einer jungen Frau und schafft eine beeindruckend düstere Atmosphäre.
Man darf gespannt sein, ob sich die Veranstalter an Left Bank erinnern, wenn es darum geht, das Programm für die nächste Ausgabe zu bestimmen. (dap)
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