von Dave Maurer
Das Kinojahr 2008 hinterliess unbarmherzig seine Spuren: Für Freunde des Charakter-Kinos begann 08 mit einem Paukenschlag, Filme wie No Country for Old Men oder There Will Be Blood setzten die Messlatte für alle folgenden Filme schon fast unverschämt hoch. Sie bescherten dem Jahr 2008 zwei gewaltige Highlights, deren filmische Kraft bis in Jahr 2009 nachwirkte. Doch das cineastische Pulver war somit bereits verschossen, dem Filmjahr 09 drohte eine garstige Trockenperiode. So hatte 2009 zwar zweifellos seine Glanzlichter, doch warfen die Meisterwerke des Vorjahres einen gigantischen Schatten auf alles, was sich mit etwas Anspruch zu profilieren versuchte. Aber genug der Schwarzmalerei, denn schliesslich hatte 2009 dennoch seine Überraschungen.
“Everything is backwards now, like out there is the true world and in here is the dream”
Die Geschichte vom Kampf der Unterdrückten gegen ihren Unterdrücker ist ein immer wiederkehrendes Motiv Hollywoods. Doch James Camerons Avatar ist viel mehr Erlebnis denn Film im eigentlichen Sinne: Dank millionenschwerer 3D-Technik erscheint die üppige Flora und Fauna des Filmes wortwörtlich greifbar. Die CGI-Welten trotzen ihrer sterilen Retortenherkunft mit lebhaften Farben, fantasievollen Designs und eigenwilligen Bewohnern. Der Film entführt auf simple, aber effektive Art und Weise in andere Welten, lässt den Blick des Betrachters minutenlang über prachtvolle Panoramaaufnahmen gleiten und bietet eine stimmige Einheit aus stillen und lauten Momenten. Somit ist Avatar nicht nur ein verheissungsvoller Meilenstein auf dem Weg zur 3D Technik, sondern auch mein Platz 10.
“Citizen, what is your name? – My name is James Tiberius Kirk!“
Die Erwartungen waren, vorsichtig ausgedrückt, eher niedrig, als bekannt gegeben wurde, dass sich der für Filme und Serien wie Alias oder Cloverfield verantwortliche Produzent und Regisseur J.J. Abrams an einem Reboot der beliebten Star Trek Franchise versuchen würde. Umso überraschender war dafür das filmische Resultat von Abrams Bemühungen: Star Trek erhielt nicht nur ein audio-visuelles Update, sondern fand auch einen Mittelweg zwischen Neustart und Hommage. Sei es nun der geschickt eingefügte Auftritt von Ur-Spock Leonard Nimoy oder das charismatische Spiel der Neubesetzung, Star Trek war hemmungslos altmodisch und topmodern zugleich. Trotz Extravaganz in Bild und Ton, atmete Abrams Reboot zu jeder Sekunde den Geist der Vorlage. In diesem Sinne: To boldly go…again auf Platz 9.
“Unscathed organs, I deliver. Repossession, I deliver. I’m the Repo! Legal assassin!“
Ein ebenfalls unerwartet guter Beitrag zum Kinojahr 09 kam vom Saw-Regisseur Darren Lynn Bousman. Der Filmemacher, der bis dato eher für uninspirierte Auftragsarbeiten bekannt war, lieferte mit Repo! The Genetic Opera ein bizarres Sprühwerk an Originalität und Innovation ab. Repo! The Genetic Opera ist ein „Grusical“ ganz im Stile der Rocky Horror Picture Show. Der Zuschauer sieht sich einer schrägen Mixtur aus Gesangssequenzen, Horrorelementen und Grusel gegenüber. Wer seine Ohren gerne mit düsteren Rockklängen der eher raueren Art durchflutet, wird sich in Repo! sofort heimisch fühlen. Bousman würzt seine dystopische Zukunftsvision um Organhandel und Auftragsmorde mit klassischen Opern-Elementen, verdreht diese aber hemmungslos zu etwas Neuartigem. Zwischen bitter-bösen Seitenhieben auf die aktuelle Medienlandschaft und masslos abstrusen Gorehaftigkeiten pocht in Repo! ein geradezu romantisches Herz. Repo! The Genetic Opera ist bunt, schrill und schräg, und gerade deswegen ein kleines Highlight in einem ansonsten so seichten Kinojahr. Platz 8 für die stilsichere Rockoper.
“The bounty on your head is 300 won. – What? I’m only worth a piano“
Nachdem Werke wie The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford oder 3:10 to Yuma für kurze Zeit ordentlich Wüstensand im verwahrlosten Western-Genre aufwirbeln konnten, ziehen bereits zwei Jahre später wieder nur noch Staubwolken durch die verlassene Filmprärie. Um dem scheintoten Western wieder Leben einzuhauchen, bräuchte es schon etwas neuartiges, etwas frisches – etwas wie The Good, The Bad, The Weird! In der Tat kommt der beste Beitrag seit Jahren zum Cowboy-Film aus der Filmindustrie Südkoreas. Regisseur Ji-woon Kim entfacht in seiner augenzwinkernden Mischung aus Hommage und Neuinterpretation ein wahres Feuerwerk an Filmzitaten, welches sich quer durch die bekanntesten Szenen des Western-Genres schlängelt. Die handgemachte Action ist spektakulär und akrobatisch, die Inszenierung gibt sich temporeich und dynamisch und die Kameraführung ist ein absoluter Genuss für die Augen. Platz 7 also für diesen schwarzhumorigen und unverhohlen rohen Orientwestern.
“You see, we’re in the business of killin’ Nazis, and boy, business is boomin’.“
Richtig grotesk wird es nun mit Platz 6, denn diese Listenplatzierung gehört voll und ganz Quentin Tarantinos Inglourious Basterds. Tarantino liebt das Kino, und zwar bedingungslos. Messerscharfe Dialoge, Charaktere, die trotz massloser Überzeichnung beängstigend menschlich wirken und eine hemmungslose Zelebrierung der Popkultur – dies zeichnet im Grunde genommen jedes Werk Tarantinos aus. Sei es nun Christoph Waltz als widerwärtiger Soziopath und Judenjäger oder Brad Pitt mit seinem breiten Südstaaten-Akzent – Tarantinos Dramaturgie ist makellos und lässt zu keiner Sekunde bissigen Humor missen. Ein wohlverdienter Platz 6 für Tarantinos Bastarde.
“What happened to the American Dream? – It came true! You’re lookin’ at it.“
Alan Moore hat im Verlaufe der letzten Jahre einen ungestümen Hass auf Hollywood entwickelt. Und wer die grässlichen Filmadaptionen seiner erstklassigen Bücher genauer unter die Lupe nimmt, kann diese Wut höchstwahrscheinlich nachvollziehen oder gar teilen. Aus der zynischen Politsatire V for Vendetta machten die Wachowski-Brüder einen geradezu familienfreundlichen Blockbuster mit milder Gesellschaftskritik und die grimmige Serie The League of Extraordinary Gentlemen wurde unter der Regie von Stephen Norrington sogar zum Popcorn-Movie umfunktioniert. Moore zog die Konsequenzen und verweigerte fortan jegliche Zusammenarbeit mit der Traumfabrik. Und trotzdem fand sein wohl bekanntestes Werk Watchmen 2009, unter der Federführung von Zack Snyder, seinen Weg in die Kinos. Snyder, der bis dato eher als Hochglanz-Regisseur belächelt worden war, schaffte es zum grossen Erstaunen der Kritiker tatsächlich, die hochkomplexe Struktur von Moores beeindruckender Vorlage fast ohne Kompromisse auf die Leinwand zu bannen. Die misanthropischen Charaktere, die Bitterkeit der Realität, die Fragen nach der Existenz der Moral – Snyder milderte die Sperrigkeit der Vorlage nur minimal ab und schuf somit eines der intensivsten Werke des Jahres 2009. Watchmen sichert sich somit als vorlagengetreue und dennoch eigenständige Regiearbeit verdient Platz 5.
“Are you really twelve? – Yes. It’s just I’ve been twelve for a very long time.“
Wer denkt, die beiden Beiträge der Twilight Saga hätten dem Vampirismus die Zähne nicht nur abgeschliffen, sondern gar komplett gezogen, der irrt sich. Die verführerische Sinnlichkeit des Verbotenen, die Verheissung eines Lebens nach dem Tod – und die kindliche Unschuld eines einsamen Jünglings. Dies sind die tragenden Elemente, deren sich der schwedische Genrebeitrag Let the Right One In mit minimalistischen Dialogen und wunderschönen Bildern annimmt. Seltsam real wirkt dieser Vampirfilm, der sich viel mehr für seine kindlichen Protagonisten interessiert, als für den Blutmythos der Nachtkreaturen. Melancholisch und leise erhält der Zuschauer einen tiefen Einblick in verletzte Seelen, und dies platziert Let the Right One In zu Recht auf Platz 4.
“You probably think this world is a dream come true… but you’re wrong.“
Lange ist es her, seit uns Tim Burton und Henry Selick mit ihrem Stop-Motion-Projekt The Nightmare Before Christmas in eine Welt der Skurrilitäten entführten. Im Jahre 2009 meldete sich Selick nun mit einem auf der Buchvorlage von Fantasy-Autor Neil Gaiman basierenden Stop-Motion-Werk zurück. Stets einen gewagten Spagat zwischen purem Feen-Zauber, zuckersüsser Bildmagie und handfesten Gruselelementen vollführend, ist Coraline sowohl buntes Bonbon als auch düstere Perle zugleich. Eingehüllt in merkwürdige und seltsam schwebende Melodien und Gesänge taucht der Zuschauer in eine Welt ein, die sich ständig verändert und immer wieder neue Facetten enthüllt. Fest eingeflochten in diesen visuellen Farben – und Bilderrausch, ist die zarte Geschichte eines kleinen Mädchens auf der Suche nach sich selbst. Unaufdringlich, nur mit leisen Tönen vorangetrieben, hinter der optischen Opulenz verborgen, aber nicht versteckt. Platz 3 also für Coraline, ein Film, welcher Disney den Angstschweiss auf die Stirn treibt.
“Why are you making everyone die? – Because… everything dies.“
Was ist überhaupt ein Märchen? Eine Erzählung, die zugleich auch eine Einbildung sein kann, vielleicht also mehr Schein als Wirklichkeit darstellt – vielleicht sogar darstellen muss, um als Märchen zu gelten? Eine Versüssung der Realität, mit klaren Grenzen zwischen Gut und Böse, so kann ein Märchen vielleicht definiert werden. In so eine Welt zieht sich auch der Protagonist in Tarsem Singhs The Fall zurück, zumindest gedanklich. Roy Walker, ein einsamer Stuntman, dessen Glieder und Träume seit einem tragischen Unfall zerborsten sind, will sich das Leben nehmen. Dazu braucht er allerdings die Hilfe des lebhaften Mädchens Alexandria, welches für ihn ein todbringendes Medikament stehlen soll. Aus dieser nicht gerade heiteren Ausgangssituation entwickelt sich eine herzergreifende Geschichte um die Suche nach dem Sinn des Lebens. Und ein Märchen wäre nicht ein Märchen, wenn es schlussendlich nicht doch ein Happy End gäbe. Somit bleibt The Fall trotz einiger sehr bitterer Momente im Kern stets lebensbejahend und herzergreifend ehrlich. Gerne belohne ich dieses wunderbare Werk mit Platz 2.
“You drank, this morning?“
Olivier Marchal schickte bereits im Thriller 36 Quai des Orfèvres einen Polizisten durch ein teuflisches Netz aus Korruption und Intrigen, doch MR 73 ist ungleich grimmiger: Marchal lässt ein schmerzhaft menschenfeindliches, pessimistisches und gnadenloses Stück Film auf das Publikum los. Körperlicher und seelischer Zerfall, die destruktive Kraft von Karriere und Verantwortung – Marchal greift sich den Zuschauer bei der Kehle und wirft ihn in eine Welt der inneren und äusseren Dunkelheit. Konsequent und unaufhaltsam zermahlt Marchal den Mythos des rechtschaffenen Polizisten vor den Augen des Zuschauers zu Staub und erschafft dadurch eine filmische Achterbahn der Zerstörung, die keinen kalt lassen dürfte.
Diesen bitteren Abgesang auf den „Film policier“ belohne ich deswegen mit Platz 1.
Soviel also zu meinen persönlichen Highlights des bald ausklingenden Jahres 2009. Eine etwas andere Art der Top 10, nämlich die der grössten Flops des vergangenen Jahres, werde ich an dieser Stelle in einer Woche vorstellen.
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