von Daniel Paredes
Ein gutes Kinojahr ist immer auch ein kontrastreiches Kinojahr: Langjährig vorbereitete Grossproduktionen und schnell abgedrehte Independentfilme, farbenfrohes Kino der Superlative und minimalistisches Schwarzweiss-Kino, unerfüllte Erwartungen und gelungene Überraschungen, altgediente Profis und verheissungsvolle Newcomer, Animations- und Realfilm, Fiktion und Wirklichkeit, Hollywood und der Rest der Welt. 2009 war ein Jahr der Kontraste. Ich hoffe, meine persönlichen Favoriten mögen dies verdeutlichen:
10. The Hurt Locker (Kathryn Bigelow, USA 2009):
Kathryn Bigelow (die Frau, die „Männerfilme“ dreht) ist ein enorm spannender Kriegsfilm gelungen. Von unübersichtlichen Bildern aus der Handkamera wechselt sie zu höchst stilisierten Slow-Motion-Aufnahmen und schafft den Spagat zwischen realistischem Kriegsszenario und spannungsgeladenem Actionkino. Dass sie den Fokus dabei auf ein Bombenentschärfungsteam richtet, verleiht dem Film zudem innerhalb des Kriegsgenres eine innovative Note, wirft aber ebenso erschreckende Einblicke auf einen der gefährlichsten Berufe der Welt.
9. Mammoth (Lukas Moodysson, Schweden/Dänemark/Deutschland 2009):
Auch in seinem neuen Film beschäftigt sich der schwedische Regisseur Lukas Moodysson (Fucking Åmål, Lilja 4-ever) mit tragischen Einzelschicksalen. Als Episodenfilm angelegt, richtet er den Fokus auf eine sozial sehr gut situierte New Yorker Jungfamilie mit Kindermädchen. Die drei eng miteinander verknüpften Episoden reichen vom Big Apple nach Thailand (hier hin reist der Ehemann geschäftlich) und die Philippinen (hier wohnen die Söhne des Kindermädchens). Ähnlich wie bei Robert Altman oder P.T. Anderson spitzen sich die Episoden langsam auf eine Katastrophe zu. Auch wenn der Film im Vergleich zu älteren Werken Moodyssons inhaltlich aber auch inszenatorisch harmloser wirkt, ist ihm ein realistischer Blick auf das bedrohte Familienleben gelungen, in Zeiten von Globalisierung und sozialer Ungerechtigkeit.
8. Wendy and Lucy (Kelly Reichardt, USA 2008):
Ein mit Mini-Budget gedrehter Film, der monatelang auf Festivals herumgereicht wurde, bis er schliesslich im Oktober auch in Deutschland in die Kinos kam – in der Schweiz leider noch nicht. Die Geschichte von der mittellosen jungen Amerikanerin Wendy, die in einem belanglosen Kaff strandet und dort ihren Hund Lucy verliert, ist ein kleiner, ehrlicher Film, der mit seiner minimalistischen Bildsprache ganz grosse Gefühle weckt und dabei ein ebenso tristes wie ehrliches Bild einer verlotterten Weltmacht zeigt. Wendy and Lucy ist neben Filmen von Ramin Bahrani oder Werken wie Frozen River ein starkes Lebenszeichen des realistischen US-Kinos fernab der Traumfabrik.
7. Slumdog Millionaire (Danny Boyle, UK 2008):
Hollywood mit Bollywood zu verknüpfen und dabei weder Amerikaner noch Inder zu sein, ist schon eine beachtliche Leistung: Der Engländer Danny Boyle hat sie meisterhaft vollbracht. Sein Film ist eine höchst unterhaltsame Verschmelzung zwischen hollywoodscher Narration und bollywoodscher Tradition, zwischen farbenprächtigen Bildkompositionen und realistischer Tragik, zwischen kapitalistischem Materialismus und schicksalhafter Fügung. Vor allem ist der Film aber eine wunderbare Liebesgeschichte – und die sind ja bekanntlich universell.
6. Avatar 3D (James Cameron, USA 2009):
James Cameron ist ein Visionär. Jemand, der hunderte Millionen von Dollar in ein Filmprojekt steckt, am Ende jedoch das zigfache erwirtschaftet und nebenbei das Medium Film vorantreibt. Avatar ist das atemberaubende 3D-Spektakel geworden, dass man sich seit Titanic von Cameron gewünscht hat und einer bereits zum Scheitern verurteilten Technik wohl endlich zum Durchbruch verhilft. Eine audiovisuelle Traumwelt, der eine einfache aber passende Story zugrunde liegt, die genügend Freiraum für Interpretationen zulässt: Wie etwa als beunruhigende Metapher auf unsere Internetgesellschaft, in der für manche das virtuelle Avatar längst zur Realität geworden ist.
5. Entre les murs (Laurent Cantet, Frankreich 2008):
In diesem halbdokumentarischen Schuldrama von Laurent Cantet ist man so nahe am Geschehen, dass man das Gefühl hat, selbst die Schulbank zu drücken. Angesiedelt in einem Pariser Vorort, verfolgt man den Schulalltag des Lehrers François Marin („gespielt“ von François Bégaudeau, auf dessen Roman der Film beruht und der in Wirklichkeit auch Lehrer ist), der sich täglich mit Problemen rassistischer, religiöser, kultureller und nicht zuletzt pubertärer Natur herumschlagen muss, dabei die Fassung bewahren und den Kindern auch etwas beibringen sollte. Ein äusserst authentisches Sozialdrama, das die Problematik der Verschmelzung unterschiedlicher Religionen und Kulturen am Ort der Schule thematisiert.
4. Milk (Regie: Gus Van Sant, USA 2008):
Gus Van Sant hat mit seinem preisgekrönten Biopic dem ersten schwulen Senator der USA, Harvey Milk, der 1978 von einem anderen Senatsmitglied erschossen wurde, ein filmisches Denkmal gesetzt. Der in allen Belangen makellose Film versteht es die Bedeutung dieser Galionsfigur der Schwulenrechte eindrucksvoll zu bebildern und hat mit Sean Penn einen Hauptdarsteller als Zugpferd, der die beste Darstellung des Jahres bietet. Ein wichtiger Film im Kampf gegen die Unterdrückung von Randgruppen!
3. Inglourious Basterds (Quentin Tarantino, Deutschland/USA 2009):
Mit den beiden Kill Bill-Filmen und dem Grindhouse-Film Death Proof machte Tarantino im vergangenen Jahrzehnt zwei Dinge, die er besonders gut kann: Rachegeschichten erzählen und Zitatkino betreiben. Auch Inglourious Basterds lässt sich in diese beiden Kategorien einnorden, bietet aber weitaus mehr: Zum Beispiel den Mut unrühmlicher Geschichte mit Fiktion zu begegnen, den Realismus von Beginn weg beiseite zu schieben und Geschichte kurzerhand umzuschreiben. Dass er dabei selbst nicht nur Kinogeschichte schreibt, sondern sein Film auch ein Film über Kinogeschichte ist und er das Kino sogar zum entscheidenden Ort der Handlung macht, ist ein wunderbarer Aspekt, der Inglourious Basterdsmit dem Prädikat Meisterwerk auszeichnet.
(Michael Haneke, u.a. Deutschland/Österreich 2009):
Endlich hat Michael Haneke den idealen Stoff für seine einzigartig minimalistische Bildsprache gefunden und erhält die internationale Anerkennung, die er schon lange verdient hat. Selten hat man in einem Historienfilm so ausdrucksstarke und passende Gesichter gesehen wie hier. Der in seiner Ästhetik äusserst beeindruckende Film – von den Schwarzweiss-Bildern über die Länge der Einstellungen bis hin zur Ausleuchtung – lässt die triste, bedrohliche Stimmung in einem protestantischen Dorf in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg wie in einem zum Leben erweckten Foto-Album aufkommen, bei dem man froh ist, dass die Zeiten vorbei sind.
1. Antichrist(Lars von Trier, u.a. Dänemark/Deutschland 2009):
Für diesen Film die richtigen Worte zu finden, ist nicht einfach. Der dänische Provokateur Lars von Trier scheidet einmal mehr die Geister. Einerseits wird auf erschreckend brutale Weise Gewalt und Sex miteinander vermischt; andererseits werden wunderschöne Bilder mit symbolhaften Figuren aufgeladen und zahlreiche interessante Allegorien aufgebaut. Der Film verweigert sich einer einzelnen Lesart, zu viele Diskurse werden aufgeblättert. Ein Film, der Genre-Muster andeutet und doch so fern von einem Genre-Film ist, wie er nur sein kann. Antichrist ist ein einzigartiger Film, vereint die eingangs erwähnten Kontraste und wird noch lange Zeit von sich reden machen.
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