Off with her head!
von Severin Auer
Tim Burton ruft zur digitalen Märchenstunde und liefert eine solide „Was-Wäre-Wenn“-Interpretation des klassischen Kinderbuchstoffs. Die Charaktere sind erwartungsgemäss schaurig schön „merk- und merkerwürdig“, herausragend gespielt von Bonham Carter, Depp und Wasikowska. Der Film ist aber weder düsteres Erwachsenenmärchen noch zuckersüsse Kinderunterhaltung. Alice in Wonderland ist ein optisches Spektakel, das trotz hohem Wiedererkennungswert, die Tiefe des Originals nicht erreicht.
Alice (Mia Wasikowska) ist jetzt 19 Jahre alt. Ihre kindliche Neugierde hat sie zwar nicht verloren, begegnet dem Ernst des Lebens aber mit einer gewissen Melancholie. Am heutigen Tag wird der bodenständige und von Verdauungsproblemen geplagte Hamish vor versammelter Adelsgesellschaft um ihre Hand anhalten. Eine Situation, mit der die junge Dame überfordert ist und um Bedenkzeit bittet. Kurz darauf stürzt sie in einen Kaninchenbau und fällt jenen tiefen Schacht hinunter, der sie bereits in ihrer Kindheit nach Wunderland gebracht hatte. Daran erinnern kann sich Alice aber nicht mehr und somit wird ihre erste Aufgabe wieder zum Trial-and-Error-Spiel. Eine kleine Türe, ein Tisch, ein Schlüssel und eine Flasche mit dem Hinweis: „Drink mich.“ Argwöhnisch wird sie von den Bewohnern von Unterland (!) – Alice hat in ihrer Kindheit nämlich etwas missverstanden – durchs Schlüsselloch beobachtet und erwartet. Nur sind sich die Gestalten plötzlich nicht mehr so sicher, ob der verschüchterte weisse Hase die richtige Dame heruntergelockt hat. Wenn Alice die Rote Königin von ihrem Thron stossen und der Schreckensherrschaft ein Ende bereiten soll, dürfen sie sich keinen Fehler erlauben.
Seit ihrem letzten Besuch hat sich das Wunderland deutlich verändert. Alles ist etwas düsterer, staubiger, freudloser und die Bewohner allesamt irgendwie verrückt (oder noch verrückter) geworden. Die Guten wie die Bösen. Die Rote Königin – Bonham Carter grossköpfig und grossartig – regiert mit eiserner Faust und leidet an Komplexen. „Kopf ab!“, ist ihre Lösung für alles. Ihre jüngere Schwester und rechtmässige Herrscherin, schwebt leichtfüssig „abgehoben“ durch die weissen Hallen. Regisseur Tim Burton drückt dem Abenteuer seinen Stempel auf und kitzelt selbst aus dem bereits verrückten Hutmacher (Johnny Depp) noch einen unerwarteten Charakterzug heraus. Mit den am Computer generierten Bildern versteht er es auch, das Wunderland bezaubernd schön und detailliert zu visualisieren. Die dreidimensionalen Effekte rückt er dabei nicht zu stark ins Zentrum, auch wenn der Märzhase seine Tassen etwas zu oft ins Publikum schmeisst.
Burton und die Drehbuchautorin Linda Woolverton (The Lion King) schicken Alice auf ein neues Abenteuer, welches in den Büchern von Lewis Carroll nicht erzählt wird und kämpfen dabei mit zweierlei Problemen. Carrolls Bücher sind von einer starken Episodenstruktur gekennzeichnet, die das damals noch kleine Mädchen von einem skurrilen Ort zum nächsten lockt. Eine Welt des Entdeckens, Wunderns und Selbstverständlichnehmens. Eine Welt voller logisch erklärbarem Unsinn. Burton versucht zwar das Gefühl des Klassikers auf die Leinwand zu bringen, indem er sich der bekannten Charaktere wie dem Raupentier, der Grinsekatze oder Dideldum und Dideldei bedient, die mit Wortverdrehungen zum Schmunzeln anregen, doch bleiben diese in ihrer Ausarbeitung zu schattenhaft, ihre Herkunft unerklärt. Klar darf man Carrolls Literatur als Basis voraussetzen, aber dort sind die Figuren gerade durch ihr plötzliches Auftauchen und „vergehen“ – bis nur noch ein „Grienen“ übrig bleibt -, gekennzeichnet. Hier wird aber ein grösserer – und leider zu oberflächlicher – Handlungsbogen entwickelt, der Alice nicht durchs Abenteuer stolpern lässt, sondern sie von Anfang an mit einer klaren Mission beauftragt. Natürlich ist die Geschichte auch wieder als Lehrstunde für Alice zu verstehen. Ein Abenteuer in dem sie erkennt, dass sie über ihr Leben selbst bestimmen kann und soll. Es ist eine Reise zu sich selbst, mit einem emanzipierten Schritt auf den richtigen Weg. Leider wird einem die Moral von der Geschichte etwas gar deutlich aufs Auge gedrückt.
Die Erwartungen waren gross und Burton liefert in der Tat solide Handwerkskunst. Der Film sprüht vor optischen Einfällen und kann mit Witz und starken Schauspielern punkten. Der erhoffte deutliche morbide Touch sucht man aber vergeblich, für Fantasy-Liebhaber ist die Geschichte zu oberflächlich und für die kleinen Kinozuschauer in ihrer Umsetzung zu gruselig ausgefallen.
[kkratings]
[hr]
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Alice in Wonderland (2010)
Deutsch: –
Land: USA
Regie: Tim Burton
Drehbuch: Linda Woolverton, Lewis Carroll (Buch)
Schauspieler: Mia Wasikowska, Johnny Depp, Helena Bonham Carter, Crispin Glover, Anne Hathaway, STephen Fry, Christopher Lee, Michael Sheen, Alan Rickman, Matt Lucas, Timothy Spall, Barbara Windsor, u.a
Kamera: Dariusz Wolski
Schnitt: Chris Lebenzon
Musik: Danny Elfman
Laufzeit: 108 Minuten
Start CH: 04.03.2010
Verleih: Walt Disney Studios Motion Pictures Switzerland
Weitere Infos bei IMDB[/box]
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©Walt Disney Studios Motion Pictures Switzerland
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