von Dave Maurer
Bisher war es schon fast eine ungeschriebene Regel: Wann immer sich Tim Burton auf den Regiestuhl schwang, entstand dabei ein Werk, welches im Verlaufe des Jahres mit grösster Wahrscheinlichkeit in den Top-Listen zahlreicher Filmmagazine auftauchen würde. Auch Groarr zollte dem Meister der Düsterromantik Respekt und wählte seinen lebensbejahenden und erquickenden Big Fish zu einem der besten Werke der letzten Dekade. Ich selbst widmete dem vorletzten Werk des eigenwilligen Regisseurs den 4. Platz meiner persönlichen Top Ten des Jahres 2008, denn dort machte es sich Johnny Depp als blutrünstiger Barbier Sweeney Toddbequem.
Ein Film von Burton ist oftmals ein Gesamtkunstwerk: Eine unkonventionelle Darstellerriege, ein schauerlicher Soundtrack aus der Feder von Altmeisters Danny Elfman und ein Optikfilter, der jegliche Farben aufgesogen zu haben scheint. Burton entführt, verzaubert und verstört – schwarzer Humor, morbide Szenarien und mordlustige Gesellen werden zu einem Märchen für Erwachsene verschmolzen.
Doch zurzeit flimmert ein Film über die Kinoleinwände, der angesichts von Burtons bisheriger Brillanz in vielerlei Hinsicht enttäuscht. Denn es gibt für einen Film kaum einen vernichtenderen Vorwurf als jener der absoluten Belanglosigkeit. Und genau diesen muss sich Tim Burtons neustes Werk Alice in Wonderland gefallen lassen. Fällt mit Burton nun ein Regisseur, der bisher einen geschickten Drahtseilakt zwischen Mainstream und düsterem Aussenseitertum vollführte, in die Bedeutungslosigkeit ab?
Bekannt wurde der Produzent, Autor und Regisseur vor allem durch sein Spiel mit kitschigen und surrealistischen Elementen, welche er immer wieder zu eigenwilligen Konstruktionen zusammenfügte. Ein Schuss Skurrilität, eine Priese Grusel und eine Handvoll morbide Finsterromantik, so braute sich Burton sein ganz eigenes Filmgebräu zusammen. Und das Genre-Sud funktionierte in der Regel hervorragend: Filme wie Edward Scissorhands oder Batman befremdeten das Publikum zwar, schlossen den mit Sinneseindrücken überfluteten Betrachter aber zu keiner Zeit aus. Burton war eigenwillig, frisch und „anders“ – doch fanden seine Filme in der Regel immer universalen Anklang.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich eines Tages dabei ertappen würde, einem Regisseur wie Burton vorzuwerfen, er habe einer Vorlage die „Seele“ geraubt. Doch im Falle von Alice in Wonderland ist genau dies geschehen. Die Filmadaption von Lewis Carrolls bekanntem Kindermärchen ist ein Hybrid aus dessen beiden Geschichten „Alice’s Adventures in Wonderland“ und „Through the Looking-Glass“ sowie einer komplett neuen Handlungsebene (Drehbuch: Linda Woolverton). Ein Stoff, der auf den ersten Blick für einen virtuosen Geschichtenerzähler wie Burton eigentlich absolut geeignet erscheint. Und schliesslich gelang es dem Filmexoten schon mit der filmischen Umsetzung von Roald Dahls „Charlie and the Chocolate Factory“, ein Kindermärchen mit moralischem Hintergedanken angemessen auf die Leinwand zu bringen. Die Ausgangslage war somit gut und weckte Hoffnungen auf ein weiteres Schauerstück aus dem kreativen Kopf Burtons.
Aber schon bereits der vor einigen Monaten veröffentlichte Trailer dämpfte die Vorfreude markant: Pompöse Farbenpracht, imposante Kostüme und schräge Kreaturen – alle entsprangen sie der Retorte, der Special-Effects-Rechner lief vermutlich wieder einmal heiss. Auf dem Papier ist alles da, was Lewis Carrolls Vorlage zu bieten hatte: Ein Eintauchen in fremde Welten, die Konfrontation von kindlicher Naivität mit der harschen Realität und eine Vielzahl an bizarren Gestalten. Doch stiehlt Burtons Hang zum audio-visuellen Bombast dem stillen Werk Bedeutung und Aussagekraft.
Zugegeben, die knallige Farbextravaganz, die Alice in Wonderland auf den Zuschauer loslässt, weiss zu faszinieren. Dem Vorwurf, ein liebloses CGI-Universum geschaffen zu haben, muss sich Burton und sein Produktionsteam also nur bedingt stellen. Doch fehlt vieles, was sowohl Burtons bisherige Arbeiten, als auch die Vorlage von Carroll ausmachte. Vor allem aber fehlt es an Lebendigkeit, will man in die schrägen Welten versinken, so wird man zurückgestossen. Verzuckert ist, was Biss haben müsste; zum Bonbon umgeformt wurde, was früher Ecken hatte. Eine bittere Erkenntnis: Burton hat sich selbst verraten.
Was sich jetzt übermässig dramatisch und pessimistisch anhören mag, ist im Grunde genommen nur der Eindruck eines enttäuschten Fans. Alice in Wonderland ist kein schlechter Film, aber er bleibt im handwerklich soliden Durchschnitt stecken. Wer an Stelle vom blutenden Cineastenherz lieber eine angemessenere Filmkritik lesen möchte, der sei hiermit auf das entsprechende Review auf unserer Website verwiesen: Off with her head!
Für mich aber gilt: Herr Burton, herzlich willkommen im Hotel Mittelmass – geniessen Sie Ihren Aufenthalt, aber bleiben Sie bitte nicht zu lange.
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