von Daniel Paredes
Regie- „Enfant terrible“ Gaspar Noé sorgte in seinem bisherigen Schaffen schon für manch handfesten Skandal. Seine beiden ersten Spielfilme Seul Contre Tous (1998) und Irréversible (2002) sind ebenso versiert wie kontrovers – und blicken beide tief in menschliche Abgründe. Irréversible, der eine neunminütige Vergewaltigungsszene mit Filmdiva Monica Belucci beinhaltet, soll bei seiner Uraufführung am Filmfestival in Cannes sogar für den ein oder anderen Kreislaufkollaps gesorgt haben. Auch seine Kurzfilme sind nicht weniger skandalös, wie etwa Carne (1991), Sodomites (1998) oder We Fuck Alone (2006) beweisen. Doch trotz diesem Hang zur Provokation entwickelte der Sohn eines argentinischen Malers seinen eigenen ästhetischen Stil: hypnotisch anmutende, kreisförmige Kamerafahrten durch die Luft; experimentelle Bassteppiche (z.B. auf Erdbebenfrequenz); ungeschnittene Gewalt- und Sexdarstellung; unkonventionelle Bildrhythmen und ein narrativer Spielwitz. Letztgenannter Punkt äussert sich in Seul Contre Tous in Form eines Zwischentitels, der zynisch vor dem anschliessenden Amoklauf warnt: „Sie haben noch 30 Sekunden Zeit den Film abzubrechen.“ Oder dass in Irréversible – der zeitlich rückwärts angeordnet ist – zuerst das extrem pessimistische Ende gezeigt wird, das fortan auf die Stimmung des Zuschauer drückt, so dass der an sich positive Anfang, der am Ende steht, einen weiterer Schlag in die Magengrube bedeutet. Man mag Noé deshalb meiden, denn seine Filme sind extremes Wahrnehmungskino; Filme, die sich förmlich gegen eine konventionelle Rezeption sträuben, so dass der Zuschauer physisch Tribut zollt.
Am 5. Mai startet nun in Frankreich mit Enter the Void sein dritter Spielfilm, den Noé selbst als sein persönlicher 2001 – A Space Odyssey versteht und dessen Konzeption ganze fünfzehn Jahre gedauert haben soll. Eine Odyssee, die nicht in die Weiten des Alls führt, sondern durch die bunte (Neon-)Lichterstadt Tokio und damit visuell insbesonders an Kubricks psychedelischen Farben-Trip erinnert, aber auch eine freie Interpretation des tibetanischen Totenbuchs sein soll: Oscar (Nathaniel Brown) und seine Schwester Linda (Paz de la Huerta) verloren als Kinder ihre Eltern bei einem schlimmen Verkehrsunfall und schworen sich damals ewige Treue. In Tokio gestrandet, schlagen sie sich unrühmlich durchs Leben – er als Kleindealer, sie als Stripperin. Als Oscar von der Polizei in einem Club namens „The Void“ erschossen wird, tritt sein Geist aus seiner körperlichen Hülle heraus. Fortan schwebt er über Tokios Lichermeer und wacht über seine Schwester, wobei seine schicksalhafte Vergangenheit sowie Gegenwart und Zukunft zu vermischen drohen.
Der Zuschauer, der den Protagonisten jeweils in einer Art Third-Person-Perspektive nur von hinten sieht, wird Zeuge dieser „Out-of-Body Experience“ und schwebt mit der Hauptfigur durch Japans nächtliche, grellbunte Hauptstadt. Hört sich verrückt an? Das ist es auch, wie man anhand der Clips und Trailer zufolge urteilen darf (siehe unten). Am Filmfestival in Cannes feierte der Film letztes Jahr in einer 163-minütigen Version Premiere. Danach nahm sich Noé nochmals drei Monate Zeit für die Postproduktion, um visuell (z.B. indem er den Bildrand nachträglich verunschärft hat) und auditiv an seinem Epos zu schleifen. Inzwischen lief der Film in finaler Version an mehreren Festivals und wurde von manchen Zuschauern ratlos und überfordert aufgenommen, von anderen aber bereits als Meisterwerk bejubelt. Leider ist ein Start in den Schweizer Kinos noch ungewiss (UPDATE: Das NIFFF 2010 wird den Film je einmal am FR 9.7. und SO 11.7. zeigen). Enter the Void scheint aber ein Werk zu sein, das man unbedingt im Kino erleben sollte, weswegen sich ein cineastischer Ausflug ins nahe Ausland sicher lohnen würde. Denn dass der Perfektionist Noé sein ganzes Herzblut in diesen Film gesteckt hat, beweisen nicht nur die schmackhaften Clips und Trailer, sondern auch die sensationellen Opening Credits, musikalisch unterlegt von LFOs Techno-Klassiker „Freak“:
Leave a Reply