Valhalla, the hall of the slain
von Dave Maurer
“Valhalla Rising” wird einem Grossteil der Zuschauer zweifellos schwer im Magen liegen: Die hypnotische Wikinger-Mär verzaubert durch ihre bildgewaltige Opulenz, verstört aber durch ihre grenzenlose Unmenschlichkeit. Zwischen herausgerissenen Gedärmen und kühlen Hochlandgebieten erzählt der Film von falscher Erlösung und animalischer Seelentrennung. Nicolas Winding Refn ist ein sperriges, aber ausgesprochen sehenswertes Werk gelungen.
Gemäss der nordischen Mythologie griffen geflügelte Walküren gefallene Krieger vom Schlachtfeld auf und brachten sie an den ehrenvollen Ruheort Valhalla – ein Paradies der Kämpfer und Bekämpften. Auf die Nordmänner in Valhalla Rising scheinen aber keine majestätischen Flugkreaturen zu warten, ebenso lassen Blut, herausgerissene Innereien und abgetrennte Extremitäten herzlich wenig Raum für strahlende Helden und glorreiche Taten. Nicolas Winding Refns sperriger Film über die unüberwindbare Natur des Menschen ist nicht nur verstörend brutal, sondern auch herzergreifend schön. Dennoch dürfte es das Werk schwer haben, ein Zielpublikum zu finden.
Valhalla Rising sprengt die Grenzen der konventionellen Erzählstruktur schon von der ersten Filmminute an: Auf Dialoge wird grösstenteils verzichtet, über die Lippen des Hauptdarstellers Mads Mikkelsen kommt im Verlaufe des Filmes kein einziges Wort. Die narrativen Inhalte werden komplett auf die bildliche Ebene verlagert, es lässt sich manchmal nur schwer erahnen, welche Gedankenarbeit in den kahlen Schädeln der agierenden Altnorden vor sich geht. Meistens erzählen die minimalistische Mimik, die gequälten Blicke und die lethargischen Körperbewegungen aber von unaussprechbarem Leid, Hass und unerfülltem Sehnen. Lange ist zu sehen, wie sich der stumme Sklave „One-Eye“ durch trübe Wassermengen kämpft. Wie eine zarte Frauenhand fährt die Kamera andächtig über die grässlichen Narben, die sein Antlitz bedecken. One-Eye, der seine Besitzer durch Faustkämpfe auf Leben und Tod unterhalten muss, findet im kühlen Nass plötzlich eine abgebrochene Speerspitze. Gemächlich schiebt er sich das kantige Objekt unter die Zunge, ehe sein Haupt wieder die Wasseroberfläche durchstösst. Noch am selben Abend tötet er seine Häscher auf bestialische Art und Weise.
Hier, etwa nach 20 Minuten, bricht alles ab, was im entferntesten Sinne als Handlung umschrieben werden könnte. In One-Eye brennt ein animalisches Feuer, seine Seele scheint mit der unbarmherzigen Natur eine Einheit zu bilden. Die Flucht vor dem Tier im Menschen entpuppt sich schnell als Ding der Unmöglichkeit: Zwar unternimmt der ehemalige Sklave eine lange Schiffsreise, um eine neue Welt und ein neues Leben zu finden, doch verhindert die Natur in der Form eines dichten Nebels seine Wandlung. Die Gefährten, die der Einäugige während seiner verzweifelten Reise antrifft, sterben allesamt bizarre Tode. Axthiebe von unsichtbaren Opponenten, Pfeilschüsse von gesichtslosen Verfolgern und Speerstösse aus der Dunkelheit raffen die Reisenden dahin – menschliche Feinde scheint es aber keine zu geben, stets ist der Tod form- und leblos. Verbunden sind die Charaktere nur durch ihren gemeinsamen Wunsch nach einem gewaltsamen Ende. Ob One-Eye schlussendlich ein fleischgewordener Teufel ist oder die Lebensmüdigkeit das einzige Bindeglied zwischen den Agierenden darstellt, beantwortet der Film nicht.
Was Regisseur Nicolas Winding Refn (Bronson, Pusher) dem Zuschauer mitteilen will, ist demnach nur schwer zu erraten. Auch wenn die homogenen Bilder die mit Blut und Dreck verkrusteten Visagen absolut authentisch wirken lassen, zielt Valhalla Rising keineswegs auf eine historisch akkurate Darstellung ab, ganz im Gegenteil. Die bewusst gewählte Anti-Handlung von Refns Wikinger-Schauerstück erinnert viel eher an das psychedelische Werk Aguirre, der Zorn Gottes von Werner Herzog. Der Wahnsinn nagt mit scharfen Zähnen am Verstand der Wikinger, abscheuliche Bluttaten werden regungslos zur Kenntnis genommen.
Die nahezu statische Kameraführung verfliesst mit One-Eyes stoischer Natur, lange schweifen die Weitwinkel-Aufnahmen über die farblosen Landschaften, spärliche Experimental-Klänge steuern einen rauen Klangteppich bei. Die farbenfrohe Schönheit ist der Natur entzogen worden, monochrome Bildkompositionen verdrängen das Pflanzengrün und machen einem dreckigen Braun Platz. Dennoch wirkt Valhalla Rising stets unbändig prachtvoll. Ohne jegliche Hektik fängt Kameramann Morten Søborg die natürliche Kraft der weitläufigen Landschaften ein, minutenlang bleibt die Kameralinse an Flora und Fauna hängen. Die Liebe zum Detail weckt stellenweise Erinnerungen an die hochstilisierte Bildästhetik des russischen Regisseurs Andrei Tarkovsky (Stalker, The Mirror).
Tief gräbt sich die Kamera in zerfurchte Gesichter und pulsierende Fleischwunden, die Reinheit der Natur kollidiert mit dem grausamen Gesetz des Stärkeren. Lange verweilen die Einstellungen auf den aufgerissenen Augen der Akteure, was an Worten verschwiegen wird, findet durch die geschickte Inszenierung dennoch seinen Weg in die Köpfe der Zuschauer. So ist das Werk mehr Gemälde denn Film, eine Bildpoesie, wie sie auch Terrence Malick (The Thin Red Line) gerne zum Einsatz bringt.
Es darf an dieser Stelle darüber sinniert werden, ob Valhalla Rising überhaupt die Ansprüche des Mediums erfüllt. Man hat das Gefühl, ein imposantes Ölgemälde zu betrachten, ein mehrstündiges Schwelgen in Bilderwelten ersetzt Narration und Dramaturgie. Nicolas Winding Refn hat ein Werk geschaffen, welches mehr Erlebnis denn Film darstellt. Der Zuschauer wird in einen merkwürdigen Schwebezustand versetzt, muss akzeptieren, dass er nicht verstehen, sondern fühlen muss. So bizarr sich dies auch anhören mag: Valhalla Rising ist kein Film, den man sich ansieht – es ist ein Film, den man erfahren muss. Wie sagte Hauptdarsteller Mads Mikkelsen zu Beginn der Filmpremiere in Toronto doch so schön: “Sit back, relax, and enjoy that imaginary joint“. Und genau dies rate ich Ihnen auch.
[kkratings]
[hr]
[box border=”full”]
Valhalla Rising (2009)
Englisch: –
Land: Dänemark, Grossbritannien
Regie: Nicolas Winding Refn
Drehbuch: Roy Jacobsen, Nicolas Winding Refn
Schauspieler: Mads Mikkelsen, Jamie Sives, Gary Lewis, Callum Mitchell, Douglas Russell, Andrew Flanagan, Ewan Stewart, Maarten Stevenson, Alexander Morton, Gary McCormack, u.a.
Musik: Peter Kyed, Peter Peter
Laufzeit: 93 Minuten
Start CH: –
Vertrieb: Frenetic Films
Weitere Infos bei IMDB[/box]
[hr]
©Frenetic Films
©Frenetic Films[hr]
Leave a Reply