![]() Land: Schweiz Regie: Michael Steiner Drehbuch: Stefanie Japp, Michael Steiner, Michael Sauter Schauspieler: Roxane Mesquida, Carlos Leal, Nicholas Ofczarek, Joel Basman, Hanspeter Müller, Andrea Zogg, Ueli Jäggi, Daniel Rohr, Florian Nussbaumer, Annamarie Sievi, u.a. Musik: Adrian Frutiger Laufzeit: 110 Minuten Start: 14.10.2011 Verleih: Walt Disney Studios Motion Pictures Switzerland Weitere Infos bei IMDB |
Ein ALPtraum – aber ein guter!
von Daniel Paredes
Der Schweizer Skandalfilm Sennentuntschi feierte am Zurich Film Festival zur Eröffnung seine Premiere. Der Film von Michael Steiner überrascht positiv mit seiner mehrschichtigen Erzählweise, dem guten Schauspiel und dem Jonglieren verschiedener Genres.
Noch nie wurde über einen Schweizer Film derart viel (Negatives) geschrieben. Aufgrund seiner Entstehungsgeschichte aber auch wegen der ohnehin kontroversen Sage, auf die er sich bezieht, wurde Sennentuntschi schon im Vorfeld als Skandalfilm bezeichnet. Nun eröffnete er die 6. Ausgabe des Zurich Film Festival. Die langwierige und für den Regisseur Michael Steiner zermürbende Phase der Postproduktion merkt man dem Leinwandgeschehen aber nicht mehr an – Im Gegenteil: Steiner ist ein atmosphärisch dichtes, spannendes Potpourri aus verschiedenen Genres und thematischen Einflüssen gelungen.
Wie ein Märchen fängt es an: Fröhlich pflückt ein kleines Mädchen in einem Wald pralle Pilze. Als es von einem älteren Jungen (Joel Basman) mit einem Spiegel geblendet wird, ist die freundliche Märchenstimmung für die nächsten zwei Stunden aber dahin: Das Mädchen zieht an einem wurzelartigen Gegenstand, der sich als skelettierter Handknochen entpuppt. Ein Schrei. Bei der anfolgenden Ermittlung stellt sich merkwürdigerweise heraus, dass der Junge, der sich da dem Mädchen näherte, schon seit 35 Jahren vermisst wird.
Nach dieser kurzen Exposition in der Gegenwart springt die Erzählung – eingeleitet durch die Mutter des Mädchens – in der Zeit zurück, genauer gesagt ins Jahr 1975: Im Bündner Bergdorf Trepunt hat sich der Kirchendiener im Glockenturm erhängt. Kurz darauf erscheint an dessen Beerdigung eine halbnackte, verschmutzte junge Frau (Roxane Mesquida). Hat sie etwas mit dem überraschenden Tod des Küsters zu tun? Die Bewohner zerreissen sich im Wirtshaus das Maul darüber und der Pfarrer (Ueli Jäggi) glaubt sogar, einen Dämon gesehen zu haben. Nur der rationale Dorfspolizist Reusch (Nicholas Ofczarek) erweist sich als Freund und Helfer und kümmert sich um die verängstigte, stumme Schönheit. Er stellt Nachforschungen zur Identität der Frau an, was ihn zu einem mysteriösen Fall in der Vergangenheit führt. Vorübergehend lässt er die Unbekannte beim Bürgermeister zurück, wo sie jedoch vom bewaffneten Pfarrer heimgesucht wird und daraufhin spurlos verschwindet.
Von diesem Treiben bekommen Älpler Erwin (Andrea Zogg) und dessen behinderter Neffe Albert (der Junge vom Anfang) nichts mit. Der alte Grobian wohnt auf der Höhenalp und begrüsst den Arbeit suchenden Martin (Carlos Leal) aus Fribourg geradezu grantig, kann ihn dort oben aber gut gebrauchen. Nachdem die tägliche Arbeit getan ist, wird bis spät in die Nacht Absinth gesoffen. Im halluzinogenen Rausch sehnen sich die beiden nach dem weiblichen Geschlecht und beschwören die alte Sage vom Sennentuntschi: Albert baut ihnen aus Besen, Stroh und Lumpen eine Puppe, die per Zauberspruch zum Leben erweckt werden soll. Die drei staunen nicht schlecht, als sie am nächsten Morgen verkatert erwachen und entdecken, dass sich das schöne Wesen vom Dorf bei ihnen versteckt. Obwohl Erwin die Geschichte kennt und weiss, dass sich das Sennentuntschi am Ende an seinen Peinigern rächt, ist er der erste, der die Frau missbraucht.
Nach seinem Film noir-Erstling Nacht der Gaukler (1996), dem Lausbubenfilm Mein Name ist Eugen (2005) und dem Swissair-Drama Grounding – Die letzten Tage der Swissair (2006) legt Michael Steiner mit Sennentuntschi nun einen Mystery-Thriller nach. Steiner, der sich nicht auf ein Genre festschreiben lässt, versteht sein Werk selbst aber eher als Alpenwestern. Und in der Tat hat der Film mit Reusch einen Sheriff, der als einziger für Recht und Ordnung sorgt, dabei allen anderen auf die Füsse tritt und das ganze Dorf gegen sich aufbringt – ohne jedoch vorerst an seinen Prinzipien zu zweifeln. Der Western bleibt jedoch nur eine Facette von vielen. Denn dadurch, dass der Film oben auf der Alp und unten im Dorf spielt, so quasi in zwei Parallelgeschichten aufgeteilt ist, kann sich Reusch nicht zur Hauptfigur entwickeln. Auch Martin – der etwas billig und wortwörtlich plakativ als Frauenmörder entlarvt wird – und Erwin fehlt es mitunter an Relevanz für den gesamten Plot, und ihr asoziales Verhalten unterbindet die Identifikation mit ihnen. Übrig bleibt das Sennentuntschti, doch auch diese Figur ist wegen ihrer Sprachlosigkeit und dem mehrfach plötzlichen Verschwinden alles andere als eine typische Identifikationsfigur. Trotzdem: gerade wegen der parallelen Erzählweise, die gelungene Wendungen in petto hat, funktioniert der Film erstaunlich gut. Zudem sind die Figuren ambivalent, so dass man mehrmals von ihren Handlungen überrascht wird und ihren nächsten Schritt nur selten vorhersagen kann. Der Film zieht daraus einen wesentlichen Teil seiner Spannung. Aus dem generell überzeugenden Cast sticht dabei Andrea Zogg als Erwin besonders hervor. Vom kauzigen Älpler mit Vorurteilen gegenüber den Städtern und einer lockeren Hand für seinen Neffen, dem trinkfesten Beschwörer alter Mythen bis hin zum schmuddeligen Grüsel, der am Ende sogar Mitleid erweckt, nimmt man ihm alles ab. Auch Roxane Mesquida als Sennentuntschi überzeugt auf ganzer Linie. Die Französin spricht zwar kein Wort, stattet ihre Figur dafür mit viel Körperlichkeit aus und changiert hierbei zwischen hilflosem Geschöpf, das sich nach Zuneigung sehnt, und animalischem, emotional verwildertem Racheengel.
Gut funktioniert das Werk auf der Ebene des Horrorfilms. Kein Wunder, ist die makabere Sage für einen solchen doch geradezu prädestiniert. Steiner zitiert dabei grosse Vorbilder wie Lucio Fulcis Ein Zombie hing am Glockenseil (so der blumige deutsche Filmtitel), Dario Argentos Phenomena oder William Friedkins The Exorcist; am schönsten ist jedoch die externe Anspielung auf George A. Romeros Night of the Living Dead, nämlich in Form des genialen Scherenschnitts von Ernst Oppliger als Postervorlage.
Die mysteriöse Frau und ihr plötzliches Erscheinen verbreitet eine unheimliche Atmosphäre, die durch die abgeschottete Alpengegend und die misstrauische, fremdenfeindliche Dorfbevölkerung noch gesteigert wird. Steiner gelingt es, aus dieser bedrohlichen Stimmung und der ungewissen Vergangenheit der Frau eine durchgehende Spannung zu erzeugen, die von dem Hass der Dorfbewohner und dem unsittlichen Treiben auf der Alp gespeist wird. Unweigerlich steuert diese Spannung auf ein moralisches, racheerfülltes Ende zu. In diesem Sinne erinnert der Film an das Exploitation-Subgenre des Rape&Revenge-Films und lässt sich dementsprechend, neben den freizügigen Sexszenen, auch zu drastischen Gewaltbildern hinreissen. Das dürfte den Horrorfans gefallen, andere werden hier angeekelt wegsehen. Ein Horrorfilm ist aber meist nur dann gut, wenn er gesellschaftliche Tendenzen und Ereignisse aufgreift, diese spiegelt und metaphorisiert. Sennentuntschi tut dies, ist demgemäss nicht nur ein Film über Rache, Schuld und Sühne, sondern greift auch aktuelle Themen wie die fragwürdige Position der katholischen Kirche auf und bringt gleichzeitig eine Art Natascha Kampusch-Geschichte unter.
Gesalzene Themen, aber ob dies für einen weiteren Skandal reicht? Eher nicht. Stattdessen sollte man Steiner attestieren, geschickt mit grossen Genres zu jonglieren, und dennoch nie die Herkunft des Films zu leugnen. Zwar wird der gelungene Twist am Ende mit einem typischen So-Wars-Gemeint-Zeitraffer etwas unter Wert verkauft, dennoch ist Steiner ein guter Film geglückt, der mehr kann, als nur am klischierten Bild der Schweizer Alpenlandschaft zu kratzen.
©Walt Disney Studios Motion Pictures Switzerland
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[…] Daniel Paredes auf filmmagazin.groarr.ch […]