von Daniel Paredes
Am Donnerstag (23.9.) startet das Zurich Film Festival. In Anbetracht des Polanski-Skandals letzten Jahres, ein umso mutigerer Schritt das Filmfestival mit dem Schweizer Film Sennentuntschi zu eröffnen – ein in doppelter Hinsicht Skandal umwobener Film: Zum einen weil die Alpensage um eine von den Sennen geschundene Puppe, die zum Leben erweckt, schon in anderen Kunstformen für Polemik gesorgt hat und der Name Sennentuntschi selbst so etwas wie eine Metapher für ein desperates, verrufenes Kunstwerk steht. Zum anderen weil die Filmproduktion trotz hoher Fördergelder kurz vor dem finanziellen Aus stand und den Produzenten grosse Anschuldigungen gemacht wurden (sogar im Zusammenhang mit Drogen und Call-Girls). Obwohl die Fertigstellung lange fragwürdig war, konnte Regisseur Michael Steiner sein Werk dank neuer Investoren in diesem Jahr dennoch beenden. Ein Film also, der mindestens zeitweise unter keinem guten Stern stand, und gewissermassen selbst von der unglückbringenden Aura der Sage befallen wurde. Allerdings hat ein Schweizer Film selten bereits im Vorfeld derart polarisieret und für Diskussionen gesorgt, was wiederum die Aufmerksamkeit auf die anstehende Premiere lenkt. So macht auch der kürzlich erschienene Trailer neugierig. Gelingt die lang ersehnte Symbiose zwischen Genrefilm und eidgenössischem Sagentum? Und wer spielt das Sennentuntschi eigentlich? Überaschenderweise ist es nämlich keine Schweizerin.
(Roxane Mesquida als Sennentuntschi)
Roxane Mesquida wurde am 1. Oktober 1981 in Marseille geboren. Bereits mit dreizehn Jahren wurde sie auf der Strasse von Regisseur Manuel Pradal entdeckt und durfte für ihre erste Rolle vorsprechen, die sie später auch bekam. Der Film hiess Marie Baie des Anges. Dass Mesquida zufällig entdeckt wurde, dürfte sie ihrem faszinierenden Aussehen zu verdanken haben: Ihre langen, dichten, braunen Haare bilden einen starken Kontrast zu der blassen Haut. Farbliche Gegensätze, die auch ihr porzellanhaftes Gesicht prägen; die meist rot geschminkten Lippen, die blauen Augen, die strengen Augsbrauen und wieder dieser blasse, helle Teint, der ihrer robusten Natürlichkeit eine fragile Note verleiht. Vielleicht ist es dieser farbliche Kontrast – hell und dunkel –, der auch ihre Erscheinung doppeldeutig prägt: lasziv und neckend einerseits, schüchtern und unschuldig andererseits. Dieses Spiel der Eindrücke, die sich je nach Lächeln, Haarwurf oder Blick sekündlich ändern, scheint auch Catherine Breillat imponiert zu haben. Die kontroverse Regisseurin (Romance) wurde 1998 bei den Dreharbeiten zu L’École de la chair auf die junge Schauspielerin aufmerksam. Sie besetzte Mesquida 2001 als die hübschere der beiden unterschiedlichen Schwestern in ihrem Skandalfilm À ma soeur!.
(Anaïs Reboux und Roxane Mesquida in À ma soeur!)
Die erwähnte Bipolarität in Mesquidas Gestik und Mimik kommt in diesem Film wohl am essentiellsten zum Ausdruck. Die damals 20-jährige Aktrice spielt eine Lolita, die in den Sommerferien ihre Sexualität gemeinsam mit einem älteren Liebhaber entdeckt, während ihre pummelige Schwester mit Komplexen zu kämpfen hat. Mesquida bewies in diesem Film viel Mut zur Freizügigkeit, liess jedoch schon zuvor ihre Hüllen auf der Leinwand fallen. Die Französin, die ein wenig Liv Tyler gleicht, wenn auch ein zierlicheres Erscheinen hat, wurde fortan vor allem als Sexsymbol wahrgenommen (verstärkt durch entsprechende Foto-Shootings), und spielte vorwiegend in Komödien und Dramen, die einen hohen erotischen Anteil hatten – ein Genre, dass es ausserhalb Frankreichs kaum noch zu geben scheint. Allein die Filmtitel in ihrer Filmographie deuten darauf hin: The School of Flesh (engl. Titel von L’École de la chair), Sexes très opposés (2002), Sex Is Comedy (2002) oder Une vieille maîtresse (2007). Bei den beiden letztgenannten wurde sie erneut von Catherinne Breillat inszeniert, die ihr, laut Mesquida, das schauspielerische Handwerk beibrachte. In Sex is Comedy, einer eher belanglosen Erotik-Komödie, erzählt Breillat innerhalb einer Film-im-Film-Handlung von ihrem Alter Ego (Anne Parillaud), während Mesquida in die „Rolle“ der jungen Schauspielerin schlüpft – eine Art Hommage an die Dreharbeiten zu À ma soeur!. Das historische Drama Une vieille maîtresse zeigt die Skandalnudel Asia Argento in der erotischen Hauptrolle der älteren Geliebten eines jungen Mannes, der jedoch aus politischen Gründen für eine aristokratische Jungfrau (Mesquida, für einmal blond) bestimmt ist und diese heiraten soll.
(Roxane Mesquida und Grégoire Colin in Sex Is Comedy)
Im Jahr 2006 machte Roxane Mesquida mit ihrer Rolle in Sheitan einen Abstecher ins Horrorgenre und spielte neben Vincent Cassel das verführerische Mädchen vom Land. Der Film wurde jedoch selbst von den Genrefans mit gemischten Gefühlen aufgenommen, passte er als eine Art Parodie nicht wirklich zum Trend der extrem brutalen Horrorwelle aus Frankreich. Trotz der eher einschlägigen Rollenauswahl macht ihre charismatische Ausstrahlung, die über die kühle Erotik hinausreicht sie nach wie vor zu einer höchst interessanten Schauspielerin. Diese Faszination scheint nun spätestens im Jahr 2010 auch ausserhalb Frankreichs angekommen zu sein. Mesquida bekam eine Rolle in Rubber (lief in diesem Jahr auch in Locarno), einer kuriosen Variation des Slasherfilms, in der ein Autoreifen losrollt und mit telekinetischen Kräften Köpfe zum Explodieren bringt. Der Film von Quentin Dupieux wurde von langweilig-hirnrissig bis einzigartig-genial rezipiert. Auch Gregg Aranaki (Mysterious Skin) wurde auf die kühle Schönheit aufmerksam und besetzte sie in seinem in der Zukunft angelegten Coming-of-Age-Film Kaboom über eine Gruppe Studenten, die ihr sexuelles Erwachen erleben. Beide Filme wurden dieses Jahr in Cannes uraufgeführt.
Obwohl die Dreharbeiten bereits im Jahr 2008 stattfanden, darf man Sennentuntschi in Anbetracht seiner Fertigstellung und Premiere durchaus als diesjährigen Film betrachten. Mesquida spielt darin die Titelrolle und schlüpft damit in die Fussstapfen von Julie Fournier (Snow White) und Isabelle Huppert (Home), die zuletzt als französische Darstellerinnen in einem Schweizerfilm die Hauptrollen übernahmen. Man darf also gespannt sein, ob die Schöne aus dem Nachbarland dem Sennentuntschi genügend Leben einhauchen wird – die Voraussetzung dafür hat sie jedenfalls.
[…] Porträt Roxane Mesquida […]