Das Yin und Yang einer Beziehung
von Daniel Paredes
Derek Cianfrance porträtiert in seinem Independentfilm den Anfang und das Ende einer jungen, amerikanischen Ehe, indem er die Schlüsselmomente der Beziehung geschickt gegenüber stellt. Die beiden Hauptfiguren erhalten viel Aufmerksamkeit und werden hervorragend dargestellt.
Blue Valentine ist ein grossartiger Film. Und zwar deshalb, weil Regisseur und Autor Derek Cianfrance das Kunststück gelingt, die Geschehnisse spontan und authentisch wirken zu lassen, gleichzeitig aber ein narratives Gesamtkonzept verfolgt, das er nie aus den Augen verliert. Dabei exerziert Cianfrance eine langzeitige Liebesbeziehung auf ihre emotionale und physische Intimität hin, wobei er den Mittelteil auslässt und den Anfang und das Ende kontrastiert. Dem Zuschauer bietet das eine aussergewöhnliche Perspektive. Auf dem Papier erinnert der Inhalt an den letztjährigen Romcom-Hit (500) Days of Summer, auf der Leinwand hingegen zeigt sich ein ganz anderes Kaliber. Der durch die neugierige und nahe Kamera erzeugte Realismus, das Herausheben einzelner Momente – auf Kosten eines linearen Plots – und die grosse Aufmerksamkeit für das Schauspiel erinnern an den grossen John Cassavetes. Auch schreckt Cianfrance nicht davor zurück, Extreme auszuloten: So romantisch und hoffnungsvoll die Beziehung anfängt, so destruktiv und aussichtslos endet sie.
Die Harmonie zwischen Michelle Williams (Shutter Island, Wendy and Lucy) und Ryan Gosling (Half Nelson, The Notebook) ist das Herzstück des Films. Erneut beweisen die beiden Stars, dass sie zu den besten ihrer Generation gehören. In Hollywood angekommen, suchen sie regelmässig herausfordernde Rollen im Independent-Bereich und finden diese in Filmen wie Blue Valentine. Für Dean (Gosling), der sich als Möbelpacker sein Geld verdient, ist es Liebe auf den ersten Blick, als er Cindy (Williams), die soeben ihre Grossmutter im Altersheim besucht, begegnet. Der eloquente und alles andere als schüchterne junge Mann nähert sich der jungen Frau unverschämt intuitiv und drängt ihr an der Türschwelle – weil er selbst kein Telefon besitzt – die Telefonnummer seines Arbeitgebers auf. Doch Cindy ruft in den kommenden Tagen nie zurück. Ungeduldig stattet Dean der Grossmutter einen Besuch ab und begegnet seiner Traumfrau kurz darauf im Bus wieder. Eigentlich ist die junge Medizinstudentin ja mit einem anderen Mann zusammen, Deans Mut, Humor und Charme wissen ihr jedoch zu imponieren und sie zum Lachen zu bringen, so dass die beiden unbeschwert um die Häuser ziehen. Es ist der Anfang einer jungen Liebe, die schon bald auf mehrere Proben gestellt wird: zum Beispiel durch Cindys eifersüchtigen Ex-Freund und eine ungewollte Schwangerschaft.
Diese Nacherzählung fasst den chronologischen Lauf der Beziehung zusammen. Allerdings entrollt Blue Valentine die Beziehung gerade nicht chronologisch: Der Film setzt später ein, fünf Jahre nach der Kennenlernphase, als Deans Haare bereits schütter sind, Cindy lediglich als Krankenschwester arbeitet und das damals noch ungeborene Kind bereits zu einem aufgeweckten Töchterchen namens Frankie (Faith Wladyka) herangewachsen ist. Es sind Blicke, Körperhaltungen, aber auch konkrete Anzeichen wie das Bier am Morgen oder der überhöhte Zigarettenkonsum, die auf ein problembelastetes Leben hindeuten – allzu bald bestätigt sich der Eindruck. Als Cindy den geliebten Labrador tot im Strassengraben liegen sieht, scheint dies der berühmte letzte Tropfen zu sein, der das Fass zum Überlaufen bringt: die junge Familie stürzt endgültig in eine tiefe Depression, aus der es keinen gemeinsamen Ausweg mehr gibt. Endlose Diskussionen und Streitereien sind die Folge und die letzten Impulse einer ausgebrannten Beziehung, in der die Gefühle längst abgestumpft sind. Die einst gefundene Liebe scheint nun verloren zu sein.
Die nicht chronologische Erzählweise, die Cianfrance für seine Kontrastierung von Anfang und Ende verfolgt, ist stimmungsvoll und aufschlussreich: In der tristen Gegenwartsebene sieht man zu Beginn beispielsweise, wie Cindy in einem Schnapsladen Bobby (Mike Vogel) trifft, jemand, den sie anscheinend schon lange nicht mehr gesehen hat. Die Begegnung ist ihr unangenehm, und als sie im Auto mit Dean darüber spricht, wird eines der vielen zermürbenden Wortgefechte zwischen den beiden entfacht. Noch weiss der Zuschauer nicht, wer dieser Bobby eigentlich ist – erst, wenn er als Cindys Freund in der Vergangenheitsebene eingeführt wird, erfährt man, mit wem man es da zu tun hatte. Und wenn der eifersüchtige Bobby Dean später übel verprügelt, schliesst sich die letzte Lücke für den Zuschauer: nun weiss man, warum der Streit im Auto entbrannte. Nicht alle Lücken werden jedoch geschlossen, manche Fragen bleiben offen – der Zuschauer wird lediglich Zeuge einzelner wichtiger Ausschnitte der Beziehung. Es sind dies die mehr oder weniger entscheidenden Szenen zur Gefühlslage der Protagonisten, die der Regisseur einander gegenüber stellt und damit die unterschiedliche Stimmungslage dokumentiert: abenteuerlicher Sex in Cindys Elternhaus und deprimierender Sex in einem Billighotel; berufliche Ambitionen und alltägliche Stagnation; Schmetterlinge im Bauch und harte Worte auf den Lippen, dem Partner entgegen geworfen.
Am Ende scheint der Versuch der Zweisamkeit zu scheitern; Cindy ist immerhin im Stande, dies zu realisieren, während Dean nur noch ein in Selbstmitleid zerfliessender Schatten seines aufgeweckten, jüngeren Selbst darstellt und sich verbissen einredet, mit seiner Situation zufrieden zu sein. Dann kommt der Abspann: ein Feuerwerk, und dazwischen Fotos der Erinnerung. Und als man bereits die Namen liest, wird man auf der Tonspur noch mal an den vielleicht schönsten Moment des Films erinnert: Als Dean Cindy mitten auf der Strasse zum Tanzen auffordert und mit der Ukulele ein Ständchen singt; unbekümmert und voller Lebensfreude.
[kkratings]
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[box border=”full”]Blue Valentine (2010)
Deutsch: –
Land: USA
Regie: Derek Cianfrance
Drehbuch: Derek Cianfrance, Joey Curtis, Cami Delavigne
Darsteller: Michelle Williams, Ryan Gosling, Faith Wladyka, John Doman, Mike Vogel, Marshall Johnson, u.a.
Kamera: Andrij Parekh
Schnitt: Jim Helton, Ron Patane
Musik: Grizzly Bear
Laufzeit: 120 Minuten
Start CH: –
Vertrieb: Universum Film GmbH
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©Universum Film GmbH
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