Wem die Stunde schlägt
von Sarah Stutte
Bergsteiger Aron Ralston stürzte 2003 in eine Felsspalte und klemmte sich dabei die Hand so unglücklich ein, dass er sich nicht befreien konnte. Danny Boyle brachte Ralstons Tour de Force nun auf die Leinwand. Herausgekommen ist ein absolut fesselndes Filmerlebnis mit einem hervorragend agierenden James Franco in der Hauptrolle. Ein Must-See, das völlig zu Recht an der diesjährigen Oscarverleihung mit sechs Nominationen bedacht wurde.
Aron Ralston (James Franco) ist Abenteurer und Extremsportler. Ob zu Land oder Wasser, immer ist er auf der Suche nach dem ultimativen Kick. 2003 macht er sich für ein Wochenende auf in den Blue John Canyon in Utah, um zwischen den riesigen Gesteinsmassen hindurchzuwandern. Doch als er in eine Felsspalte herunterklettern will, gibt der Stein nach, an dem er sich festhält. Der 27-jährige stürzt in die Schlucht hinab – und der locker gewordene Felsbrocken klemmt seine rechte Hand ein. Ralston sitzt in der Falle. Freunde und Verwandte hat er nicht über seinen Aufenthaltsort informiert, in der kargen Landschaft hört niemand seine Hilferufe, und mit seinem stumpfen Taschenmesser kann er weder den Felsen zerkleinern, noch den Knochen seines Armes zerschneiden. Darüber hinaus hat der Bergsteiger fast keine Verpflegung dabei und nur noch ein paar Tropfen Wasser in seiner Flasche. In den darauffolgenden Tagen durchlebt Aron Ralston seine persönliche Hölle und hält seine Gefühle und Gedanken mit einer Handkamera fest. Immer wieder versucht er sich – etwa mit einem selbstgebauten Flaschenzug – aus seiner misslichen Lage zu befreien. Hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Resignation lassen ihn nur die Erinnerungen an seine Familie und persönliche Visionen am Leben. Unterkühlt und dehydriert bricht sich Ralston am fünften Tag seiner Tortur selbst den Arm, kann mit seinem Messer nun endlich Fleisch und Nerven durchtrennen und sich mit der Amputation letztendlich befreien…
Danny Boyle ist der Garant für besondere Filmerlebnisse. Ob Trainspotting, The Beach, Sunshine oder 28 Days Later, immer erzählt Boyle fesselnde Geschichten, immer sind diese packend in Szene gesetzt. Auch 127 Hours, der Film, der auf Aron Ralstons autobiographischem Buch “Between a Rock and a Hard Place” beruht, nimmt sich da nicht aus. Inszenatorisch ist er schlicht atemberaubend, was nicht nur an den grandiosen Landschaftsaufnahmen liegt. 127 Hours ist anders als andere Sportlerdramen und Survivalfilme, weil die schnellen Schnitte, die das Tempo vorantreiben – Boyles Markenzeichen – gerade bei diesem Projekt wie die Faust aufs Auge passen. Schon zu Filmbeginn visualisiert der Regisseur mit musikclipartigen Splitscreensequenzen und dem dazugehörigen Sound den Speed, der das Leben des Adrenalinjunkies Ralston beherrscht. Der Zuschauer wird von der Energie und dem Tempo ohne Rücksicht auf Verluste mitgerissen. Permanent hält sich die Geschwindigkeit bis zum Absturz in die Felsspalte, ob Ralston nun mit dem Auto, mit dem Fahrrad oder zu Fuss durch die Wüstenlandschaft rast. Selbst bei der zufälligen Begegnung mit zwei Wanderinnen und dem anschliessenden, gemeinsamen Höhlentauchen, wirkt der Extremsportler zwar locker und lässig, gleichsam aber auch wie der einzig ruhelose Punkt inmitten der idyllischen Umgebung. Nur keine Zeit verlieren: Ralston scheint das Paradebeispiel unserer modernen Gesellschaft zu sein. Doch seine Hände, die den Fels berühren, künden das kommende Unheil schon an. Der Unfall selbst markiert dann einen spürbar dramaturgischen Bruch. Boyle nimmt den Fuss vom Gas und seiner sich für unbesiegbar haltenden Hauptfigur den Wind aus den Segeln. Und plötzlich wird klar: Die anfängliche, oberflächliche Ästhethik ist für Boyle Mittel zum Zweck gewesen, um den Zuschauer mit dem Fall des coolen, strahlenden Helden wirksam zu schockieren. Erst jetzt wird der Filmtitel eingeblendet, denn erst ab jetzt tickt die Uhr.
In der Felsspalte selbst herrscht Beklemmung und Düsternis. Von der vorangegangenen Leichtigkeit ist nichts geblieben. James Franco muss nun den Rest des Films alleine tragen und macht dies geradezu meisterlich. Der charmante, aber profillose Draufgänger, den Franco vor dem Sturz verkörperte, öffnet sich nun dem Zuschauer und wird diesem immer sympathischer. Man erfährt viel über Ralston, auch durch die Rückblenden und Halluzinationen des Protagonisten. Natürlich schwingt hier ein wenig Mitleid mit, doch James Franco lässt Ralston nie in blinde Panik geraten oder ganz und gar verzweifeln. Sein Ralston ist überlegt, hoffnungsvoll und witzig. Traurigkeit, Wut oder Angst kommen bei ihm in Schüben, wirken deshalb jederzeit glaubhaft und nicht so, als ob sie dem Zuschauer aufgezwungen werden sollen. Trotz aller Tragik hat 127 Hours durchaus auch komische Momente, die sich aus der Situation heraus ergeben und zwischendurch ein wenig für Auflockerung sorgen. Boyle bleibt dabei immer ganz nahe an seiner Figur und dem Geschehen, fast so, als sässe er mit in dem engen Schacht. Die tolle Kamera und das intensive Spiel des Hauptdarstellers wirken wie ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann. James Franco ist für seine Leistung verdientermassen für den Oscar nominiert, aber auch Boyle gibt hier, zwei Jahre nach seinem Welterfolg Slumdog Millionair, eine Meisterleistung ab. Das grossartigste an diesem Film ist jedoch, dass man die ganzen 90 Minuten hindurch unablässig und gebannt auf die Leinwand blickt, um dann körperlich unversehrt, doch emotional angeschlagen das Kino zu verlassen.
[kkratings]
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127 Hours (2010)
Originaltitel: /
Land: Grossbritannien, USA
Regie: Danny Boyle
Drehbuch: Danny Boyle, Simon Beaufoy, Aron Ralston (Buch)
Schauspieler: James Franco, Lizzy Caplan, Kate Mara, Amber Tamblyn, Treat Williams, Kate Burton
Musik: A.R. Rahman
Laufzeit: 94 Minuten
Start CH: 17.02.2011
Verleih: Pathé Films
Weitere Infos bei IMDB[/box]
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©Pathé Films
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