von Daniel Paredes
Festivalleiter Dieter Kosslick hat die schwere Aufgabe einen internationalen Wettbewerb zu formen, zu einer Zeit im Jahr, in der dies nicht einfach ist: Es ist Oscar-Saison, die grossen Stars und relevanten Filme rennen vom einen Termin zum nächsten und finden kaum Zeit einen Zwischenstopp in Berlin einzulegen – sei es auch nur für eine Gala-Vorstellung. Die grossen Autorenfilmer wie von Trier, Cronenberg oder Sokurov befinden sich noch in der Postproduktion und warten insgeheim auf das wärmere Wetter an der Croisette. Braucht es also einen Bruch? Sollte man endgültig über den eigenen Schatten springen und den Fokus vordergründig auf ein junges, internationales Kino richten, frische Talente auf der grossen Bühne des Wettbewerbs fördern? Leichter gesagt als getan, findet nur wenige Wochen vor der Berlinale das Sundance Film Festival statt, das ein grosses Einzugsgebiet an jungen Filmemachern beansprucht und sich zumindest die US-Talente längst geschnappt hat. Ist es da sinnvoll Sundance nachzuspielen, wie man es in diesem Jahr mit The Future und Co. vermehrt getan hat? Fragen über Fragen, die sich die Verantwortlich gefallen lassen müssen. Denn der internationale Wettbewerb der Berlinale lässt nur schwer eine sinnvolle Struktur erkennen: da gibt es Filme, die ausser Konkurrenz laufen, Sondervorführungen und unsichtbare Themenkästen, nach denen man die Filme offensichtlich jährlich auszusuchen scheint; und so liegen Welten zwischen den Filmen, dass man sie, sofern sie denn zueinander in Konkurrenz stehen, kaum vergleichen kann. Heterogenität in Ehren, aber wie muss sich da die Jury um Isabella Rosselini fühlen, wenn man eine quietsch-fidele Indie-Beziehungskomödie wie The Future mit einem philosophischen Endzeit-Monument wie A torinói ló von Béla Tarr vergleichen muss?
Entsprechend bin ich froh, dass ich nicht gezwungen war, die Konkurrenz abzuwägen, und mich hier in meinem Bericht fragmentarisch auf einzelne Werke konzentrieren kann, die ich bei meinem ersten Berlinale Besuch gesehen habe.
Wer gewinnt den Goldenen Bären?
Samstag, den 19. Februar um 08:30 Uhr, nach den ersten drei Tagen Berlinale: Auf dem Weg zum Pressecenter im Hotel Grand Hyatt am Potsdamer Platz stellte sich mir nur eine Frage: Für welche Vorführungen am nächsten Tag hole ich Tickets? Am Sonntag lief noch mal ein Grossteil der Wettbewerbsfilme, und der Gossip um den möglichen Gewinner, der Samstagabend im Rahmen der Preisverleihung bekannt gegeben wurde, hallte durch die Räume des 5-Sterne Hotels. Doch ausgerechnet bei jenen drei Filmen, deren Titel besonders laut gezwitschert wurden, liefen die Vorführungen sonntags parallel um 22.30 Uhr: Margin Call, The Future und Jodaeiye Nader az Simin. Schliesslich entschied ich mich für eine Karte für The Future, der im Berlinale Palast gezeigt wurde. Eine Entscheidung, die durchaus System hatte: Margin Call – der vermeintlich Beste Film zum Thema Finanzkrise – dürfte es mit grossen Stars wie Kevin Spacey und Jeremy Irons ohnehin leicht in die heimischen Kinos schaffen und ist den anderen beiden daher in Sachen Exklusivität hinterher. Der Iraner – von Kritikern am meisten gelobt – wiederum reizte mich nur bedingt, nicht zuletzt wegen des politischen Tamtams um Jafar Panahi; sollte er dennoch gewinnen (was er schlussendlich auch in grossem Rahmen tat), würde man den Film sicherlich in Bälde sehen können; wenn nicht: sei`s drum. Blieb also der US-Idependent Film, der mir wärmstens empfohlen wurde und dessen Hauptdarstellerin und Regisseurin bereits am Vortag, abseits des Roten Teppichs, mit ihren ausgefallenen Schwarzweiss-Strümpfen meine Aufmerksamkeit geweckt hatte – es könnte sich ja um den diesjährigen Greenberg handeln. Ich liess den Barcode auf meinem Presseausweis scannen und bekam das Ticket für den Film von Miranda July in die Hand gedrückt. Was den Gewinn eines Preises anging, erwies sich The Future in der Gegenwart der Vorführung zwar bereits als Geschichte, dennoch hatte sich die Entscheidung gelohnt.
Drei Lichtblicke im internationalen Wettbewerb
Aus der Perspektive einer Katze (!) erzählt, beginnt die Geschichte über ein Pärchen, das so herrlich absurd ist. Ungemein schnell findet man den Einstieg, gerne schaut man den beiden sonderbaren Figuren zu. Die Performance-Künstlerin Miranda July liefert nach Me and You and Everyone We Know mit The Future ihren zweiten Langfilm ab und fungiert erneut als Regisseurin, Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin. Sie erzählt die Geschichte eines Paares, das die 30 längst überschritten hat, schnurstracks auf die 40 zusteuert und dabei irgendwie nicht recht erwachsen wird. Dass die beiden gut zueinander passen, wird schon durch ihre ähnlich wuschelige Frisur deutlich, doch scheinen Sophie und Jason den Zeitpunkt, zu dem andere Paare bereits Kinder haben oder zumindest beruflich abgesichert sind, verpasst zu haben. Um für einmal Verantwortung zu übernehmen, planen die beiden in Kürze die kranke Katze Paw Paw zu adoptieren, die wie ein Neugeborenes ständige Fürsorge benötigt. Dieses Vorhaben löst in den beiden grosse Ängste vor der Verantwortung und dem Verlust der Freiheit aus, wodurch sie sich entschliessen den verbleibenden Monate zu nutzen, um ihre Träume zu erfüllen. Auch dies funktioniert nicht sonderlich gut – und Sophie kommt auf sehr unkonventionelle Weise auf amouröse Abwege. The Future lebt von seinen skurrilen Figuren und ihren komischen, aber glaubwürdig menschlichen Macken, die man in Hollywood-Komödien vergebens sucht; in amerikanischen Independent-Filmen aber findet man sie. Gegen Ende wird der Film schliesslich etwas gar abstrus, wenn sich ein T-Shirt selbständig macht und von Miranda July in einer wahrhaft einzigartigen Performance über ihren ganzen Körper gestülpt wird; oder wenn ihr männliches Pendant beginnt, Dialoge mit einem vertraut aussehenden Mond zu führen. Allem in allem ist diese zweite Regiearbeit aber eine amüsante Komödie, die sich Freiheiten nimmt und manch ehrliches Schmunzeln bewirkt.
Auch wenn mich The Future überzeugen konnte, als letzter Film in meiner persönlichen Festivalprogrammierung hatte er es nicht leicht. Denn kurz zuvor durfte ich mir Béla Tarrs A torinói ló ansehen, der mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnete wurde und viel Aufmerksamkeit für sich beanspruchte. Auch dieser Film wurde im grossen, trotzdem aber sehr gemütlichen – so gemütlich, dass sich zu spät Kommende nicht auf die Treppe setzten, sondern sich beinahe drauflegten – Berlinale Palast gezeigt. Italienische Journalisten hinter mir sprachen bzw. schrien mir aus dem Herzen, als sie den Film am Ende mit einem mehrfachen „Bravo!!“ bejubelten. Und das, obwohl manche Zweifel im Vorfeld nicht unberechtigt waren, befürchtete manch einer, dass Tarr sich womöglich nur mit der Berlinale zufrieden gab, weil sein Film in Cannes ohnehin keine Chance hätte. Doch A torinói ló, vom Ungaren als sein letzter Film angekündigt, entpuppte sich als Meisterwerk. Ellenlange Plansequenzen, stetige Wiederholungen in Bild und Ton und eine minimalistische, sich ebenfalls wiederholende Handlung sprengen den Rahmen traditioneller Sehgewohnheiten und verlangen nach einer differenzierten Wahrnehmung und Verarbeitung des Gesehenen: Während draussen ein wilder Sturm tobt, sitzt ein Kutscher mit seiner Tochter in einem zeitlosen Bauernhaus. Wiederholt essen sie Kartoffeln, ziehen sich an und aus und versuchen mit einem widerspenstigen Pferd auszureiten. Einmal kommen Zigeuner vorbei, die man wieder vom Hof jagt. Es ist ein Ausharren, ein unbewusstes Warten auf das Ende der Zeit – bis der Sturm vorbei ist, Stille einkehrt und das Licht der Dunkelheit weicht. Im Vorspanntext bereits verweist Tarr auf die Begegnung Friedrich Nietzsches mit dem Kutscher und dem Pferd, um die Geschichte mit einer ironischen Prise Philosophie zu würzen. Eine Vorwegnahme dessen, was ihm ausgezeichnet gelingt: mit wenig viel zu sagen bzw. gar nichts zu sagen, und die gedanklichen Mühlen des Zuschauers dennoch ins Laufen zu bringen. Die kraftvollen, kontrastreichen Schwarzweissbilder, die etwas Gemäldeartiges besitzen, so wie die immer wiederkehrende, melancholisch schöne Melodie verfestigen den nachhaltigen Eindruck, etwas Aussergewöhnliches gesehen und erlebt zu haben.
Ein anderes Highlight meines Besuchs in Berlin war Wim Wenders 3D-Tanzfilm Pina, ein Film über die verstorbene Ballett-Direktorin Pina Bausch, der im Wettbewerb ausser Konkurrenz gezeigt wurde. Ich muss gestehen: Tanzfilme sind eigentlich nicht mein Genre, auch weil ich mich in der Welt des Balletts nur geringfügig auskenne, aber der Film – im Gegensatz zu den meisten anderen 3D-Filmen – weckte in mir die Neugierde auf die neue, alte Technik, war ich von Wenders Rauminszenierung doch schon immer beeindruckt. Und in der Tat, meine Erwartungen wurden erfüllt: Die 3D-Technik scheint für den Tanzfilm prädestiniert zu sein. Wenders kreiert Räume, die man sonst nur auf einer richtigen Bühne erleben kann, mit dem Vorteil ständiger Ortswechsel und atemberaubender Kulissen. In einer Szene stopft sich eine Ballerina rohes Fleisch in die Schläppchen, bevor sie ihren Spitzentanz vor dem kontrastreichen Hintergrund eines stillgelegten Industriegeländes beginnt. Eine andere Szene zeigt einen Tänzer, der grinsend über die Hecken springt und sich von einem Jack Russell Terrier in Acht nehmen muss, der ihm an die Waden will. Immer wieder lässt Wenders die Tänzer auch zu Wort kommen, lässt sie über ihre Erlebnisse mit Pina Bausch sinnieren und zeigt die kurz vor Drehbeginn verstorbene Ballettmeisterin in alten Archivaufnahmen. Wiederholt wird auch die Bühne gezeigt und es werden Ausschnitte von Stücken wie „Café Müller“ oder „Vollmond“ vorgetragen, die Wenders dann plötzlich auch ins Freie transportiert. Auch in den Strassenverkehr nach Wuppertal, wo man in oder unterhalb der Schwebebahn tanzt, performt und sich bewegt. Wenders lässt es sich bei aller Hommage nicht nehmen, auch an sein eigenes Oeuvre wie etwa an Alice in den Städten zu erinnern. Pina ist ein wunderbarer Dokumentarfilm, der zumindest aus filmischer Sicht und mit Hilfe von 3D neue Perspektiven auf den Tanz eröffnet und den Zuschauer leichtfüssig und frohen Mutes, irgendwann vielleicht doch einen Tanzkurs zu besuchen, entlässt.
Donata Wenders © NEUE ROAD MOVIES GmbH
Schauplatz: Berlin
Es hat seinen ganz besonderen Charme, wenn man im Kino sitzt und sich der gezeigte Handlungsort quasi vor den Türen der Spielstätte befindet. So war Berlin relativ häufig Handlungsort wichtiger Szenen von mehreren Filmen – ein Schelm, wer denkt, man könne sich auf diese Weise einen sicheren Platz im Programm ergattern. Denn längst erschien die deutsche Hauptstadt nicht immer in gutem Licht. In Ulrich Murnbergers Verwechslungskomödie Mein bester Feind beispielsweise stürzt das Flugzeug ab, in dem Moritz Bleibtreu, der einen Juden spielt, von seinem ehemals besten Freund Georg Friedrich, der einen Nazi spielt, zu den Vorgesetzten nach Berlin gebracht werden soll. Überhaupt gilt der Ort im Film nicht unzeitgemäss als Zentrale des Bösen, wohin selbst Befehlshaber anderer Städte nur ungern hinberufen werden. Mit seinem Folgefilm erreicht Murnberger nicht ganz die Klasse von Der Knochenmann, dennoch ist ihm ein unterhaltsamer Film gelungen, der die Grenzen zwischen Ernst und Humor auslotet und zugleich auf beiden Ebenen besteht. Die Grundidee von einem Juden, der in einer Notsituation die Identität eines Nazis annimmt und einen solchen wiederum als Juden ausgibt, mag nicht sonderlich innovativ sein – aber durchaus komisch! –, Murnberger versteht es aber, den beiden auch eine gemeinsame Vorgeschichte zu verpassen und kann dabei auf schauspielerisch souveräne Leistungen setzen.
Wesentlich humorloser rollt Andreas Veiel in Wer wenn nicht wir ein anderes Stückchen deutsche Geschichte auf. Ausführlich erzählt er die Lebensgeschichte von Berward Vesper und Gudrun Ensslin, zwei wichtige Figuren in der Vorgeschichte der Roten Armee Fraktion. Gespielt werden die beiden aufopfernd von August Diehl und Lena Lauzemis, die sich aufgrund ihrer hervorragenden Leistung durchaus für den Darstellerinnenpreis empfohlen hätte. Nüchtern und detailliert erzählt Veiel die Beziehungsgeschichte der beiden, geprägt von Idealismus und Selbstzerstörung. Andreas Baader spielt bei ihm nur eine Nebenrolle als geschminkter Schönling mit Hang zur Selbstüberschätzung. Und auch hier wird Berlin wieder zum Schauplatz, wenn die späteren Mitbegründer der RAF die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche als Ziel eines Anschlags diskutieren und dort tatsächlich einen Rauchbombenanschlag verüben, den Veiel am Originalschauplatz nachgestellt hat. Man merkt dem Film an, dass der Regisseur bisher vornehmlich dokumentarisch gearbeitet hat, wenn Archivaufnahmen als Eckpfeiler die Handlung festigen und von der Ausstattung bis zur Musikwahl vieles der Authentizität geschuldet ist.
Dass Jaume Collet-Serra bei der Pressekonferenz nur geringfügig zu seiner Zerstörungswut, die er der Berlinale-Stadt entgegenbrachte, befragt wurde, war überraschend. Viel überraschender, wenn nicht gar verwirrend war jedoch, wie frenetisch manche Journalisten bei der Pressevorführung von Unknown Identity diese Zerstörung bejubelten. Jedenfalls handelte es sich um den Berlin-Film schlechthin: Da stürzt Liam Neeson beispielsweise von der Oberbaumbrücke ins kalte Wasser der Spree und verliert sein Gedächtnis; oder liefert sich eine wilde Verfolgungsjagd durch die Friedrichstrasse; und zu guter Letzt wird das berühmte Hotel Adlon in die Luft gejagt. Abgesehen vom on-location-Bonus beginnt der Film tatsächlich atmosphärisch dicht im Stile eines waschechten Hitchcocks oder Polanskis. Je mehr Neeson nach dem Unfall jedoch über seine Identität erfährt, desto schwammiger wird die Story. Zudem: Neben der starken Hauptfigur wirken die Nebenfiguren nur wenig ausgereift. Vor allem die beiden Frauen – Diane Kruger als Bosnierin in Berlin (!) und January Jones, bekannt aus der TV-Serie Mad Men – wirken eher blass, wohingegen die beiden älteren Herren Bruno Ganz und Frank Langella für manch amüsanten Dialog sorgen. Im Vergleich mit ähnlichen Hollywood-Stoffen ist der Film aber dennoch überdurchschnittlich gut. Ausserdem ist es ganz beruhigend zu wissen, dass Collet-Serra doch nicht ganz so böse auf Berlin ist: der Director`s Cut wurde abends nämlich im Adlon gezeigt.
Zwei schwache Beiträge im Wettbewerb
Egal nach welchem System eine Jury sich berät und Filme in die engere Auswahl nimmt: Komplettausfälle dürften immer willkommen sein, weil sie einem Zeit und Diskussionen ersparen. Ralph Fiennes dürfte den Kollegen mit seinem Regiedebüt Coriolanus dementsprechend einen freundschaftlichen Dienst erwiesen haben. Aufpolierter Stumpfsinn: eine Shakespeare-Verfilmung in Shakespeare-O-Ton gesprochen, mit Kriegsszenarien, die an den Balkan erinnern, gleich dass sie in Rom spielen sollten, und Protagonisten die entsprechende Namen tragen wie eben Caius Martius Coriolanus – gespielt von Ralph Fiennes himself. Hätte ein erfahrener Regisseur aus diesem wagemutigen Grundkonzept durchaus etwas Interessantes machen können, scheitert Fiennes schon an so Grundlegendem wie der Schauspielerführung. Weder sich selbst noch seine Kollegen Vanessa Redgrave oder Gerard Butler weiss Fiennes richtig zu dirigieren oder in Szene zu setzen, was letztlich in prätentiösem Over-Acting oder in Figuren ausartet, die hölzern und teilnahmslos wirken. Letzteres trifft vor allem auf Gerard Butler zu, der mit seinem äusserst begrenzten Talent kaum in der Lage ist, eine wesentliche Rolle in einer Shakespearverfilmung zu stemmen – gerade, wenn er von der Regie dermassen im Stich gelassen wird.
Ein anderer Film, der mich unbefriedigt zurückliess, ist das US-amerikanische Teenager-Drama Yelling to the Sky. Mit Tränen in den Augen wies die Regisseurin Victoria Mahoney am Ende nochmals darauf hin, dass es sich bei gezeigtem Film um das erste „mixed-raced teen drama“ der USA handelt. Das mag zwar durchaus stimmen und der heutigen Zeit angepasst sein, macht den Film jedoch nicht besser. Sweetness und ihre ältere Schwester Ola leben in einer bedauernswerten Familiensituation: Ihre schwarze Mutter hat einen Knacks und ist mit den Nerven am Ende, während ihr weisser Stiefvater gerne und viel trinkt und genauso fleissig die Fäuste sprechen lässt. Apropos Fäuste: Gleich zu Beginn kommt es zu einer üblen Schlägerei, als Ola Sweetness aus einer brenzligen Situation befreit und einen Jungen dabei lebensgefährlich verprügelt. Konnte sich Sweetness da noch nicht selbst helfen, entwickelt sie sich im Laufe des Films vom grauen Mäuschen zur toughen Bitch, die an der Schule Drogen vertickt. Immer wieder kommt es fortan zu Gewalt: in der Schule, auf der Strasse oder zuhause, bis sich nach einer solchen Gewaltspitze einiges zum Guten zu wenden scheint. Der Film bedient viele Stereotypen und ist – mal davon abgesehen, dass er sich um eine „mixed-race“-Familie dreht – kaum innovativ. Wichtigste Erkenntnis: Lenny Kravitz’ Tochter Zoe ist Schauspielerin (Sweetness) und Gabourey „Precious“ Sidibe kann nicht nur einstecken, sondern auch austeilen.
Die Höhen und Tiefen im Panorama Special
Die belgisch/niederländische Produktion Rundskop erwies sich als meine persönliche grosse Entdeckung des Festivals. Der Film lief im Panorama Special und lässt hoffnungsvoll in die Zukunft des europäischen Autorenkinos blicken. Regisseur Michael R. Roskam scheut sich in seinem Debüt nicht, die Story etwas grösser anzulegen, als man es von einem Erstlingswerk vielleicht erwarten würde: Da gibt es einen mysteriösen Mord an einem Polizisten, das organisierte Verbrechen, einen Spitzel, der die Polizei mit Infos füttert, und einen bulligen Bauern, der ein dunkles Geheimnis aus seiner Kindheit mit sich trägt. Unter der Prämisse des Hormonhandels hängt alles zusammen, wie man im Laufe der Handlung erfährt. Wer jetzt vielleicht denkt, Roskam entwickle seinen Film in Form einzelner Episoden, irrt aber. Erzählt wird in erster Linie die Geschichte des Bauern Jacky Vanmarsenille, der die Hormonspritzen für seine Rinder braucht, um deren Wachstum zu beschleunigen; wiederholt pumpt er sich die Hormone aber auch selbst in den Körper. Muskulös und mit seinem animalischen, starren Blick, wirkt er wie ein ständiger Gefahrenherd – jederzeit angriffsbereit. Früh genug springt die Handlung in der Zeit zurück, zeigt, was diesem Mann als Kind passiert ist und was sein Leben für immer verändert hat. Die Figur erhält dadurch eine Tragik und Schwere, die Empathie hervorruft und Vanmarsenilles aufgestaute Wut verständlich macht; dennoch fühlt man sich in seiner Gegenwart sogar als Zuschauer unwohl und bedroht. Um hier und da für Entlastung zu sorgen, nutzt Roskam die anderen Handlungsstränge zum Durchatmen; zeigt mehrmals zwei Mechaniker, deren Auftritte schon beinahe in den Bereich des Slapsticks hineinreichen. Diese Momente zeugen von der Verspieltheit eines jungen Regisseurs, stören aber nicht im Geringsten, sondern kontrastieren die fiebrigen, atmosphärisch äusserst intensiven Momente, in denen Jacky Vanmarsenilles Frust in Form von zerstörender Gewalt auszubrechen droht. Eine Szene in einer Diskothek vermag dies besonders eindrücklich zu visualisieren: wenn er seine Kindheitsliebe Lucia durch die Menge anstarrt, während laute Elektro-Musik, tanzende Körper und Alkohol seine Sinne vernebeln und seine Fassade langsam aber sicher bröckeln lässt… Rundskop (englisch passenderweise: Bullhead) ist junges, intensives, wagemutiges, kontroverses, europäisches Autorenkino. Man darf auf den nächsten Film von Michael R. Roskam gespannt sein!
© Nicolas Karakatsanis
Neben den anspruchsvollen, kunstvollen Filmen – und jenen, die es unbedingt sein wollen – gibt es auch ein paar schwarze Schafe, über deren Platz im Programm sich fast jeder wundert. Ein solcher Film lief dieses Jahr im Panorama Special unter dem Titel The Devil`s Double. Regisseur Lee Tamahori – einst mit Once Were Soldiers gefeiert, mit dem Bond-Film Die Another Day in Hollywood angekommen und danach mit Actionfilmen wie Next im Mittelmass versunken – erzählt die Geschichte von Latif Yahia, dem echten Double von Saddam Husseins Sohn Udday. Der Film ist eine abstruse Mischung aus Caligula und Scarface und zeigt Bilder in Hochglanz-Ästhetik, die an den fingierten Pablo Escobar Film „Medellin“ aus der HBO-Serie Entourage erinnern, wie es so treffend in einer Internet-Kritik zu lesen war. Drastische Folterszenen, Vergewaltigungen von Jungfrauen, Drogenexzesse, wahnsinnige Machtspiele und viel nackte Haut sind die Zutaten, mit denen Tamahori die seichte Erzählung um die Hölle im goldenen Palast anreichert. Dabei lässt der neuseeländische Regisseur jedoch keine Selbstironie aufblitzen, vielmehr schüttet er den Zuschauer mit knapp zwei Stunden Dekadenz in Hochglanzbildern zu. Scheinbar ohne sich dessen bewusst zu sein, wird der Film zum Exploitation-Werk, das sich an der Grenze zur Lächerlichkeit bewegt. Dazu trägt auch die Doppelrolle des britischen Hauptdarstellers Dominic Cooper bei, der den Sohn des Diktators mit dümmlichen Grimassen überzeichnet und ein psychopathisches Kasperle-Theater aufführt. Trotz – oder gerade wegen – diesen krassen Fehltritten und der unreflektierten Aufbereitung von Zeitgeschichte, erwies sich The Devil`s Double als kleine Oase des schlechten Geschmacks. Naheliegend, dass sich nicht jeder gerne dorthin zurückzieht, wenigstens aber eignet sich The Devil’s Double bestens dafür, den Akku wieder für anspruchsvolle Kost aufzuladen.
John Michael McDonagh erhielt für sein Debüt The Guard wettbewerbsübergreifend eine lobende Erwähnung als Erstlingsfilm. Für viele war der irische Film auch ein heisser Kandidat für den Panorama-Publikumspreis. Reich an Filmzitaten, erzählt McDonagh ein Buddy-Movie der etwas anderen Sorte. Mit Brendan Gleeson und Don Cheadle treffen zwei ungleiche Typen in der irischen Pampa aufeinander: Gleeson auf der einen Seite, ein vorlauter Ire mit rassistischen Vorurteilen, der sich auch während er eine heisse Spur verfolgt Zeit für ein Schäferstündchen mit zwei wesentlich jüngeren Prostituierten nimmt. Und Cheadle auf der anderen Seite, ein hochqualifizierter FBI-Agent, der sich ein anderes Umfeld und kompetentere Mitarbeiter gewohnt ist. Gemeinsam einem internationalen Drogenschmuggler-Ring auf der Spur, raufen sich die beiden mehr oder weniger zusammen. Man merkt dem Film an, dass seine beiden Hauptdarsteller gut aufgelegt waren und Spass an ihren Rollen hatten. Auch ein Grossteil des Publikums dürfte seinen Spass haben, ist McDonagh doch durchaus im Stande seine Figuren und Szenen mit Coolness und Humor auszustatten, die an das Kino Tarantinos oder Ritchies heranreichen. In den besten Szenen des Films gelingt es ihm sogar hervorragend diese Vorbilder zu ironisieren, wenn er beispielsweise Pulp Fiction zitiert, der stämmige Gleeson seinen Milkshake aber zu schnell austrinkt und ihm die Kälte schmerzvoll in den Kopf steigt. In weniger guten Szenen wirkt der Film übertrieben; holt Gleeson die als Politessen verkleideten Nutten in seinem Pimp-Freizeitoutfit am Bahnhof ab, ist dies nicht lustig, sondern unpassend überzeichnet. Ein Pluspunkt des Films ist der irisch-ländliche Lokalkolorit, wenn Cheadle hilflos auf die gälisch sprechende Bevölkerung trifft oder abends im Pub ein Guinness mit seinem neuen Partner runterleert – solche Momente verleihen dem Film seinen Charme. Unverständlich bleibt hingegen, warum Mark Strong in einer kleinen Nebenrolle als konturloser Ganove verbraten wird. The Guard dürfte auf kleineren Festivals und spätestens im Heimkino für gute Unterhaltung sorgen.
Ein Abstecher ins Forum
Da ich meine Prioritäten bei der Filmauswahl vorwiegend auf den internationalen Wettbewerb und das Panorama gesetzt habe, kam das Forum, das in diesem Jahr von dem zentralen Thema Familie geprägt war, eindeutig zu kurz. Nichtsdestotrotz möchte ich einen Beitrag hervorheben. Brownian Movement ist einer jener Filme, die ihre Wirkung erst nach ein paar Tagen entfalten. Dessen war sich auch Regisseurin Nanouk Leopold bewusst, als sich das noch übrig gebliebene Publikum beim anschliessenden Q&A sprachlos (oder gar ratlos?) zeigte; passend meinte die Niederländerin, dass eine Fragerunde in ein, zwei Wochen wohl interessanter und ergiebiger wäre. Man kann es dem Publikum aber nicht ganz verübeln, weist der in drei Parts unterteilte Film doch manche Längen auf, die sich in langen Einstellungen manifestieren, wobei nicht immer klar wird, warum der Schnitt nicht früher erfolgte. Der in hellen, weichen Farben gehaltene Film erzählt die Geschichte einer Ärztin, die mehrere sexuelle Abenteuer mit Patienten erlebt, die besonders markante äusserliche Merkmale aufweisen – sei es enorme Fettleibigkeit oder extreme Körperbehaarung. Im ersten Teil wird man Zeuge, wie sich die Ehefrau und Mutter diesem auftauchenden Verlangen tranceartig hingibt, während sie im zweiten Teil nüchtern damit konfrontiert wird, einen Zusammenbruch erleidet und die Konsequenzen ihrer Abenteuer ausbaden muss. Bis dahin weiss der Film durch seine unkonventionelle, Sehgewohnheiten herausfordernde Filmsprache zu gefallen, was nicht zuletzt auch am guten Schauspiel der Hauptdarstellerin Sandra Hüller liegt. Nicht an die langsame Erzählweise gewöhnt, verliess mancher Zuschauer bereits nach dem zweiten Teil das Kino. Wohl mit der leisen Vorahnung, was noch kommen wird: Im dritten Teil steigert sich der Film nämlich in Sachen Geduldstrapazierung nochmals, wenn die Frau gemeinsam mit Mann und Kind nach Indien reist, um sich von den Geschehnissen zu distanzieren und sich vor allem wieder mit ihrer Familie zu versöhnen. Während hier meditative, spirituelle Erfahrungen in langen Einstellungen gezeigt werden, scheint man den richtigen Zeitpunkt für das Ende verpasst zu haben. Trotz durchaus positiver Erinnerung an den Film wäre hier weniger – wie so oft – mehr gewesen.
Wie eingangs erwähnt, ist es nicht immer ganz leicht, den roten Faden der einzelnen Sektionen zu erkennen, geschweige denn einen solchen sektionsübergreifend auszumachen. Allerdings ist das bei über 400 Beiträgen auch kein Wunder! Gerade dies macht aber auch den Reiz des Festivals aus, dass man sich überraschen lassen muss, nicht jeder den gleichen Film sieht und man freudig seinen Kollegen von Entdeckungen berichtet, die sie nicht verpassen sollten. Berlinale heisst zehn Tage filmischer Ausnahmezustand, hervorragend organisiert und auf die besten Schauspielstätten der Stadt verteilt. Und sollte einen die Muse Neues zu entdecken einmal verlassen, zieht man sich in die Retrospektive zurück und schwelgt in nostalgischen Bildern, wie sie in diesem Jahr von Ingmar Bergman stammten. Herrlich! Ick komme wieder…
Alle Gewinner in der Übersicht:
PREISE DER INTERNATIONALEN JURY
GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN FILM
Jodaeiye Nader az Simin (Nader And Simin, A Separation)
von Asghar Farhadi
GROSSER PREIS DER JURY – SILBERNER BÄR
A torinói ló (The Turin Horse)
von Béla Tarr
SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE REGIE
Ulrich Köhler für
Schlafkrankheit
SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE DARSTELLERIN
an das Schauspielerinnen-Ensemble in
Jodaeiye Nader az Simin (Nader And Simin, A Separation) von Asghar Farhadi
SILBERNER BÄR FÜR DEN BESTEN DARSTELLER
an das Schauspieler-Ensemble in
Jodaeiye Nader az Simin (Nader And Simin, A Separation) von Asghar Farhadi
SILBERNER BÄR FÜR EINE HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG
IN DER KATEGORIE KAMERA
Wojciech Staron für die Kamera in
El premio (The Prize) von Paula Markovitch
ex aequo
IN DER KATEGORIE PRODUCTION DESIGN
Barbara Enriquez für das Production Design in
El premio (The Prize) von Paula Markovitch
SILBERNER BÄR FÜR DAS BESTE DREHBUCH
Joshua Marston und
Andamion Murataj für
The Forgiveness Of Blood (The Forgiveness Of Blood) von Joshua Marston
ALFRED-BAUER-PREIS, in Erinnerung an den Gründer des Festivals, für einen Spielfilm, der neue
Perspektiven der Filmkunst eröffnet
Wer wenn nicht wir
von Andres Veiel
JURY FÜR DEN BESTEN ERSTLINGSFILM
PREIS BESTER ERSTLINGSFILM
On the Ice
von Andrew Okpeaha MacLean
LOBENDE ERWÄHNUNG
The Guard
von John Michael McDonagh
und
Die Vaterlosen
von Marie Kreutzer
PREISE DER INTERNATIONALEN KURZFILMJURY
GOLDENER BÄR
Paranmanjang
Night Fishing
von PARKing CHANce (PARK Chan-wook, PARK Chan-kyong)
PREIS DER JURY–SILBERNER BÄR
Pu-Seo-Jin Bam
Broken Night
von Yang Hyo-joo
LOBENDE ERWÄHNUNG
Fragen an meinen Vater
Questions to my Father
von Konrad Mühe
PREISE DER UNABHÄNGIGEN JURIES
PREISE DER ÖKUMENISCHEN JURY
Wettbewerb Jodaeiye Nader az Simin (Nader And Simin, A Separation),
von Asghar Farhadi
Lobende Erwähnung The Forgiveness Of Blood (The Forgiveness Of Blood),
von Joshua Marston
Panorama Lo Roim Alaich (Invisible), von Michal Aviad
Lobende Erwähnung Barzakh (Barzakh), von Mantas Kvedaravicius
Forum En terrains connus (Familiar Grounds), von Stéphane Lafleur
Lobende Erwähnung De Engel van Doel (An Angel in Doel), von Tom Fassaert
PREISE DER FIPRESCI JURYS
Wettbewerb A torinói ló (The Turin Horse), von Béla Tarr
Panorama Dernier étage gauche gauche (Top Floor Left Wing), von Angelo Cianci
Forum Heaven’s Story (Heaven’s Story), von Zeze Takahisa
LESER- UND PUBLIKUMSPREISE
PanoramaPublikumsPreis – Spielfilm
También la lluvia (Even The Rain), von Icíar Bollaín
PanoramaPublikumsPreis – Dokumentarfilm
Im Himmel, Unter der Erde. Der Jüdische Friedhof Weißensee, von Britta Wauer
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