Wand aus Schweigen
von Sarah Stutte
«Winter’s Bone» ist ein Thriller, der eigentlich gar keiner ist. Anstatt sich in einem spannenden Moment zu entladen, ist seine Gewalt unterschwellig immer präsent. Regisseurin Debra Granik führt den Zuschauer in ruhigen Kamerafahrten in eine ihm unbekannte, teils beängstigende Realität. Mit ihrer dramatischen Geschichte um eine Familie im Kampf um ihre Existenz hat sie bei der Kamera, den Schauspielern und der Erzählweise alles richtig gemacht.
Die Teenagerin Ree Dolly (Jennifer Lawrence) lebt in bitterarmen Verhältnissen mit ihren beiden jüngeren Geschwistern und ihrer psychisch kranken Mutter in den Ozarks, einer Hochlandregion im Hinterland von Missouri. Der Vater, dem wegen seiner zahlreichen Drogendelikte erneut Gefängnis droht, ist untergetaucht. Ree muss sich deshalb alleine um die Familie kümmern, doch es fehlt an Feuerholz und Essen, um gut durch den anstehenden Winter zu kommen. Dann erfährt Ree, dass ihr Vater Haus und Land für seine Kaution verpfändet hat. Taucht dieser nicht zu seinem nächsten Gerichtstermin auf, wird der Familienbesitz enteignet und die Dollys wären obdachlos. Ree bleibt genau eine Woche, um ihren Dad zu finden. Doch die Suche wird für die junge Frau zu einer wahren Tour de Force, denn in fast jedem der verwandtschaftlichen Nachbarhäuser stösst sie auf Ablehnung und offene Gewaltandrohung. Niemand hat etwas gesehen. Niemand will etwas wissen. Selbst ihr Onkel Teardrop (John Hawkes) begegnet Ree mit Argwohn. Die 17-jährige aber gibt nicht auf und kämpft, einzig unterstützt von ihrer Freundin Gail (Lauren Sweetser), mit dem Mut der Verzweiflung gegen das drohende Unheil. Mit ihrem Starrsinn bringt sie sich jedoch in grosse Gefahr…
Neben The Kids Are Allright war Winter’s Bone der zweite Independentfilm, der es an der diesjährigen Oscarverleihung auf die Liste der zehn besten Filme 2010 schaffte. Beide Filme kämpften noch in drei weiteren Kategorien um eine goldene Trophäe, gingen insgesamt aber leider leer aus. Trotzdem – alleine die Nominierungen für die Königsdisziplin „Bester Film“ waren eine Überraschung, bedenkt man, dass kleinere Produktionen in der Vergangenheit von der Academy eher unberücksichtigt blieben. Da beide Werke in den USA jedoch überaus erfolgreich liefen und zahlreiche kleinere wie grössere Filmpreise gewinnen konnten, kam man einfach nicht an ihnen vorbei. Völlig zu Recht. Während The Kids Are Allright mit seiner Lockerheit punkten kann, ist Winter’s Bone schlicht und ergreifend ein cineastisches Meisterstück, das den ungeschönten Blick auf eine fremde, raue Welt gewährt, die uns gleichermassen fasziniert und abstösst. Die Romanvorlage zu Debra Graniks zweitem Langfilm schrieb US-Autor Daniel Woodrell, der selbst in den Ozarks aufwuchs und bis heute dort lebt. Viele seiner Geschichten handeln von der kargen Gegend und seinen zurückgezogenen Bewohnern, die den uramerikanischen Traum nie geträumt haben, sondern ihr Leben an die widrigen Umstände anpassen mussten und nur die eigenen Regeln befolgen. Die Polizei wird in Woodrells Mikrokosmos nur unpersönlich “das Gesetz” genannt, mit dem jeder Mann aus der näheren Umgebung wenigstens einmal im Leben in Konflikt gerät. “Country Noir” nennt der Autor diesen Stil. In der Verfilmung hält Kameramann Michael McDonough diese Tristesse von der ersten Minute an stimmig fest. Die Gesichter der Figuren, die er mit seiner Kamera einfängt – selbst die der Kinder – wirken müde und perspektivlos. Passend dazu zeigt McDonough in matten Farbtönen eine dichtbewaldete Landschaft, die irgendwie aus der Zeit und aus jedem zivilisierten Blickfeld gefallen scheint. Seine Bilder wirken dabei niemals übermässig dramatisierend oder gar wertend, immerzu scheinen sie ehrlich. Dass der sozialkritische Film so authentisch rüberkommt, verdankt er neben seiner erzählerischen und visuellen Kraft sicher auch dem Fakt, dass viele Ortsansässige hier als Laien mitwirkten.
Auch die restlichen Schauspieler, allen voran Jennifer Lawrence als starke und genauso zerbrechliche Ree Dolly, spielen grossartig. Mit einer schier unglaublichen Leinwandpräsenz trägt sie den Film mühelos alleine. Für die 21-jährige Darstellerin ist Winter’s Bone der internationale Durchbruch. Zwei Jahre zuvor spielte sie im Drama The Poker House, dem vielgelobten Regiedebüt von Lori Petty, ihre erste Hauptrolle. Zwei Nachwuchspreise hatte Lawrence bereits in der Tasche, als sie 2010 von der New York Times auf die Liste jener 50 Personen gewählt wurde, deren Werdegang man in Zukunft verfolgen sollte. Ebenfalls erwähnenswert ist die Performance von John Hawkes als Onkel Teardrop, der erst als latent bedrohliche Figur eingeführt wird und sich im Laufe der Handlung spürbar wandelt. Für Lauren Sweetser ist die Rolle der Gail, Rees treuer Freundin, die erste überhaupt. Dennoch: Als Teenager-Mum und unglückliche Ehefrau ist sie genauso überzeugend wie ihre erfahrenen Kollegen. Einziger Wermutstropfen: Im Buch schien es, als ob Ree heimlich in Gail verliebt sei. Diesem homoerotischen Aspekt, der im gezeigten Millieu sicher interessant gewesen wäre, wurde im Film leider keine Rechnung getragen.
Debra Granik entfaltet die Tragik ihrer Geschichte qualvoll langsam, mit Szenen, die sich tief ins Gedächtnis brennen. Keine Geste, kein Wort ist zuviel oder zuwenig. Natürlich kann das Buch mit seinen einmaligen Beschreibungen filmisch niemals gleich wiedergegeben werden. Granik gelingt mit ihrer Umsetzung, den Dialogen, Schauspielern und Bildern aber etwas, was den meisten Romanverfilmungen verwehrt bleibt: Sie vermag die Atmosphäre fast eins zu eins einzufangen. Am Ende ist deshalb nicht nur die Hauptdarstellerin gewachsen, sondern auch der Zuschauer.
[hr]
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Winter’s Bone (2010)
Deutsch: –
Land: USA
Regie: Debra Granik
Drehbuch: Debra Granik, Anne Rosellini
Kamera: Michael McDonough
Schnitt: Affonso Gonçalves
Schauspieler: Jennifer Lawrence, Isaiah Stone, Ashlee Thompson, Valerie Richards, Shelley Waggener, Garret Dillahunt, William White u.a.
Musik: Dickon Hinchliffe
Laufzeit: 100 Minuten
Kinostart CH: 24.03.2011
Verleih: Look Now!
Weitere Infos bei IMDB[/box]
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©Look Now!
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