Aufständische Teenies und sprachlose Eltern
von Daniel Paredes
Ziska Riemanns erster Spielfilm «Lollipop Monster» ist geprägt von Widersprüchen. Bereits der Titel dieses Teenager-Dramas um zwei rebellierende Mädchen deutet das Konträre an: süss, poppig, monströs. Mehrschichtig und aufwändig erzählt, weiss dieser Film zu gefallen. Mit dem heftigen Ende disqualifiziert er sich für eine jüngere und potentielle Zuschauerschicht jedoch selbst.
Ariane (Jella Haase) trägt ihre Kleider am liebsten kunterbunt. Auch ihr Kinderzimmer ist eine Ansammlung farbenprächtiger Habseligkeiten. Doch von ihrem Zuhause hat sie die Nase voll. Insbesondere ihr älterer Bruder (Janusz Kocaj), der beim Essen gerne mal einen merkwürdigen Anfall vortäuscht und von Mama wieder und wieder wie ein Baby bemuttert wird, geht ihr auf die Nerven. Gelangweilt von ihrer hysterisch-sorgsamen Mutter (Sandra Borgmann), ihrem Langweiler-Vater (Rainer Sellien) und ihrem Bruder testet sie als lolitahafte Blondine mit knallroten Lippen zunehmend ihre weiblichen Reize aus. In der Schule hingegen sucht sie die freundschaftliche Annäherung an eine Aussenseiterin, die meistens mit zerrissenen Strumpfhosen, Kapuzenpulli und dunkler Schminke alleine unterwegs ist. Auch Oona leidet unter ihrer Familiensituation: Ihr Vater (Fritz Hammel) ist ein gescheiterter Künstler, der nicht einmal in der Galerie seines Bruders Lukas’ (Thomas Wodianka) einen guten Platz für seine Bilder erhält. Als Oona ihre Mutter (Nicolette Krebitz) nach einer Ausstellung mit Lukas beim Fremdgehen erwischt, kommt es zum Eklat: Ihr von Depressionen geplagter Vater erhängt sich an einem Baum im Vorhof von Oonas Schule. Nebst all ihren Mitschülern sieht auch die Tochter das blau angelaufene Familienoberhaupt am Ast baumeln. Gerade zu diesem bitteren Zeitpunkt versucht Ariane in Oonas tristes Leben zu treten. Und auch wenn Oona alles andere als interessiert scheint: Die gemeinsame Bewunderung für eine bizarre Gothicband namens „Tier“ schweisst die Mädchen zusammen. Dies ist der Start einer engen Freundschaft, basierend auf der beidseitigen Sehnsucht nach Freiheit.
Lollipop Monster ist harte Kost und für Jugendliche unter sechzehn Jahren zu Recht nicht freigegeben. Da gibt es den toten Vater am Baum, Sexszenen mit einer Minderjährigen und am Ende spritzt Blut. In Form eines herkömmlichen Sozialdramas wäre dieser Stoff nur schwer zu ertragen. Aber ein solches Sozialdrama hatte die Regie führende Künstlerin nie vor Augen – stattdessen setzt sie die heftige Geschichte mit einer peppigen Inszenierung und in kreativer Pop-Ästhetik um. So werden Videoclip-artige Ausschnitte verwendet, wenn wiederkehrend der immer gleiche Song der Band „Tier“ ertönt und die Mädchen das Konzert ihrer Lieblingsband besuchen. Ein anderer Videoclip läuft im TV – bevor er schliesslich die ganze Leinwand füllt – und ist als Abgesang auf Barbie und das Kindsein zu verstehen, während Ariane die Wände ihres Zimmers mit schwarzer Farbe streicht. Riemann, die nicht nur Musik produziert und Filme dreht, ist auch als Comic-Zeichnerin tätig und verwendet wiederholt eine Zeichentrickebene aus expressiven Kohlestrichen. Auch die Bilder, die Oona malt, stammen von ihr. Daneben wird getanzt, digitale Effekte kommen zum Einsatz und Momente der Nähe werden auch mal in Super-8 gedreht – von den Schauspielerinnen selbst. Auch wenn bei einem solchen Potpourri aus unterschiedlichen Erzähltechniken, ästhetischem Überschwang und comichafter Überzeichnung durchaus die Gefahr besteht, den roten Faden der Story zu verlieren: Immer wieder glückt der Regisseurin der Übergang in die triste Realität. Dies liegt zum einen daran, dass nicht nur die beiden jungen Hauptdarstellerinnen ausdrucksstark überzeugen, sondern auch die Erwachsenen. So etwa Nicolette Krebitz als Oonas Mutter oder Thomas Wodianka, der sich in der Rolle des Lukas’ plötzlich als Oonas Ersatzvater aufspielt. Zum anderen liegt das aber auch daran, dass die ästhetischen Variationen als Symbole für das Brodeln unter der Oberfläche gedeutet werden können. Sie sind Ausdrucksform der Gefühlsebene und somit Zeichen der jugendlichen Aufbruchstimmung.
Beide Mädchen reagieren wütend auf die fehlende oder bedeutungslose Kommunikation in ihrer Familie – darin findet sich das eigentliche Thema des Films. In Arianes Familie liegt diese Schuld vorwiegend bei der alles überspielenden Mutter, ebenso aber beim stummen Vater, die beide ohnmächtig der Rebellion ihrer Kinder (der Bruder entpuppt sich als richtiger Satansbraten) begegnen und sie mit übertriebener Fürsorge und Ignoranz im Keim zu ersticken versuchen – was jedoch ins pure Gegenteil umschlägt. Auch Oona sieht sich mit einer schweigsamen Mutter konfrontiert, die – scheinbar blind – Trost bei jenem Mann sucht, der die Schuld an ihrer misslichen Lage trägt. Aber damit nicht genug: Die Eltern sind nicht nur sprachlos, sie schenken ihren Kindern auch kein Gehör. Gegen Ende des Films lenkt eine dramaturgische Zuspitzung jedoch vom eigentlichen Thema ab. Ein anderes, im Teenageralter zentrales Thema gewinnt Überhand: die sexuelle Lust, gefolgt von Schmerz. Lukas findet Gefallen an der lasziven Ariane – und umgekehrt. Diese etwas gar gesuchte Konstellation stellt die Freundschaft der beiden Mädchen natürlich auf die Probe – und führt zu einem gewaltvollen Ende. Geprägt ist dieser Teil der Geschichte aber vor allem von durchschaubaren Andeutungen – wenn Arianes rote Lippen lustvoll an einer Erdbeere saugen, ist klar, dass der gewissenlose Lukas früher oder später anbeissen wird –, so dass auch der Streit zwischen den Mädchen vorprogrammiert ist. Zwar gelingt es der Regisseurin, ganz am Ende nochmal auf die familiäre Sprachlosigkeit zu verweisen, Lösungsvorschläge hält sie jedoch keine bereit. Man ist darum versucht zu behaupten, das blutige (wenn auch durch die gesamte Überzeichnung des Films abgeschwächte) Finale bringe Lollipop Monster um seinen pädagogischen Wert als mutiges Beispiel für kreatives Geschichtenerzählen und sinnvolles Rebellieren.
[kkratings]
[hr]
[box border=”full”]
Lollipop Monster (2011)
Originaltitel: –
Land: Deutschland
Regie: Ziska Riemann
Drehbuch: Ziska Riemann
Schauspieler: Sarah Horvath, Jella Haase, Nicolette Krebitz, Thomas Wodianka, Sandra Borgmann, Rainer Sellien, Fritz Hammel, Janusz Kocaj, Nikeata Thompson
Musik: Ingo Frenzel
Laufzeit: 96 Minuten
Start: –
Verleih: Filmcoopi
Weitere Infos bei IMDB[/box]
[hr]
©Filmcoopi
©Filmcoopi[hr]
Leave a Reply