![]() Land: Schweiz Regie: Markus Imboden Drehbuch: Plinio Bachmann Schauspieler: Katja Riemann, Stefan Kurt, Max Simonischek, Lisa Brand, Miriam Stein, Andreas Matti Musik: Benedikt Jeger Laufzeit: 108 Minuten Start CH: 03.11.2011 Verleih: Ascot Elite Weitere Infos bei IMDB |
Eine trügerische Idylle
von Şule Durmazkeser
Mit dem Film «Der Verdingbub» greift Regisseur Markus Imboden eines der wohl schwärzesten Kapitel in der Schweizer Geschichte auf. Mittels einer einfachen und ruhigen Bildsprache versucht er das erschütternde Thema der Verdingung zu erfassen und dem Zuschauer durch die fiktive Figur des Max näherzubringen. Entstanden ist ein Film, dessen brutale Handlung im Gegensatz zur ruhigen Erzählweise steht und der durch die starke Leistung seiner Darsteller besticht.
Die Schweiz in den 1950er-Jahren: Der Waisenjunge Max (Max Hubacher) wird an eine Bauernfamilie verdingt. Glücklich darüber, endlich Teil einer richtigen Familie zu sein und sogar sein eigenes kleines Kämmerlein zu haben, muss Max leider allzu bald feststellen, dass die Realität eine andere ist. Für die harte Arbeit auf dem Hof bekommt er keine Anerkennung, stattdessen hagelt es Prügel und Beschimpfungen. Nur seine Handorgel spendet ihm Trost – die Musik hilft ihm der brutalen Wirklichkeit zu entfliehen. Aber Max ist nicht ganz allein. Auch Berteli (Lisa Brand) kommt als Verdingkind zur Familie Bösiger auf die Dunkelmatte, da ihre verwitwete Mutter sie und ihre beiden Schwester nicht mehr ernähren kann. Das gemeinsame Schicksal schweisst die beiden zusammen und lässt sie von einem besseren Leben in Argentinien träumen. Es gelingt Max sogar Berteli davon zu überzeugen mit ihm zu fliehen. Doch das Schicksal kommt ihnen zuvor…
Mit Der Verdingbub spricht Markus Imboden ein trauriges Thema an, das lange Zeit tabuisiert wurde. Aber wie sehr man sie auch verdrängen möchte, die Verdingung ist ein Teil der Schweizer Geschichte. Vor allem durch den Verzicht auf eine historisierende Distanz verdeutlicht der Film, dass das Thema nicht als „schon längst vergangen“ abgetan werden kann. Nahe bleibt die Kamera darum bei den Charakteren und erlaubt den Zuschauern unmittelbar an den Geschehnissen teilzunehmen: die gradlinige Erzählstruktur und die ruhigen Aufnahmen dienen Imboden wiederum dazu, den Fokus auf die gezeigten Ereignisse zu legen. Der Film bleibt damit nicht neutral oder unentschlossen, sondern bezieht deutlich Stellung gegen veraltete Denkweisen, die Nachlässigkeit der Behörden und die Ungerechtigkeit, zu einem menschenunwürdigen Leben verdammt zu sein. Bemerkenswert ist dabei die Ausarbeitung der einzelnen Charaktere: Hier gibt es keine klare Trennung zwischen Gut und Böse. Die Figuren sind vielschichtig konstruiert und erscheinen dadurch glaubwürdiger. Auf diese Weise wird dem Zuschauer die Möglichkeit geboten, sich kritisch mit der Thematik auseinanderzusetzen. Was der Film zeigt, ist, dass das Leben an sich und der tägliche Kampf ums Überleben das Verhalten der Menschen prägt und ihre Handlungsweise bis zu einem gewissen Grad beeinflusst. So sind Herr und Frau Bösiger – herausragend gespielt von Stefan Kurt und Katja Riemann – denn auch nicht von Grund auf schlechte Menschen, sondern von dem schweren, entbehrungsreichen Leben abgehärtet und verbittert. Und nicht nur Max und Berteli werden Opfer dieser aggressiven Grundstimmung, sondern auch Jakob (Max Simonischek), der Sohn der Bösigers, dessen unerfüllter Wunsch nach der Anerkennung seines Vaters als Eifersucht und Aggression gegenüber Max zum Ausdruck kommt. Schnell wird deutlich, dass der Mangel an Anerkennung und Liebe zu einem Teufelskreis aus Frust, Wut und Gewalt führt.
Der Verdingbub wurde im Emmental (Berner Mitteland) gedreht und zeigt stellvertretend eine scheinbar heile Schweizer Welt, die sich als trügerische Idylle entpuppt. Bei näherem Betrachten entfaltet sich eine nahezu hermetisch abgeschlossen Gesellschaft, die an Altem festhält und sich jeglicher Neuerung verschliesst. Alle Versuche, daran etwas zu ändern, sind zum Scheitern verurteilt. Das muss auch die neue Lehrerin (Miriam Stein) am eigenen Leib erfahren. Als junge Frau, die aus der Stadt kommt und obendrein noch unverheiratet ist, stellt sie von Anfang an eine Bedrohung für das Althergebrachte dar. Ihre fortschrittliche Denkweise und die Bedeutung, die sie Bildung beimisst, führen jedoch dazu, dass sie sich beherzt gegen die festgefahrene Ordnung wehrt. Leider verschlimmern ihre Versuche, Max und Berteli zu helfen, die Situation der beiden nur noch mehr und führen letztlich dazu, dass sie ihre Anstellung verliert. Diese immer wiederkehrende Ungerechtigkeit und das Gefühl, ihr machtlos ausgeliefert, zu sein durchziehen den gesamten Film. Gerade als man denkt, dass sich Max Situation endlich bessern wird, kommt die nächste Enttäuschung. Wider Erwarten lässt sich Max davon aber nicht unterkriegen – sein Überlebenswille bleibt trotz aller Widrigkeiten ungebrochen. Seine Handorgelmusik, die die Stille des Films auf beeindruckende Weise durchschneidet, wird zum Sinnbild seines Durchhaltevermögens.
Eindrücklich setzt Regisseur Markus Imboden die Thematik der Verdingung im Film um. Der Verdingbub bezieht Stellung, ohne die Gesamtumstände ausser Acht zu lassen. Die Schuld ist nicht bei Einzelpersonen zu suchen, sondern in der rückständigen Denkweise einer Gesellschaft, die nicht willens ist, ein solches menschenverachtendes Verhalten abzulegen. Glücklicherweise verzichtet Imboden darauf, die Ereignisse künstlich zu dramatisieren, um die Geschichte zusätzlich emotional aufzuladen. So entwickeln die realistischen Aufnahmen eine Eigendynamik, die, verbunden mit den vielschichtig aufgebauten Figuren, ein stimmiges Ganzes ergeben. Trotz einiger Dialoge, die teilweise zu theatralisch ausgefallen sind, ist Der Verdingbub ein starker Schweizer Film, der auch im Ausland wahrgenommen werden dürfte. Ob die Rolle der Mutter Bösiger notwendigerweise mit Katja Riemann besetzt werden musste – bedenkt man, dass man sie Schweizerdeutsch synchronisierte – sei dahingestellt.
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Verdingkinder: Meistens Waisen- und Scheidungskinder, wurden zwischen 1800 und 1950 von den Behörden den Eltern weggenommen und Interessierten öffentlich feilgeboten. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Kinder oft auf einem Verdingmarkt versteigert. Den Zuspruch bekam jene Familie, welche am wenigsten Kostgeld verlangte. In einigen politischen Gemeinden soll diese Praxis noch nach 1950 üblich gewesen sein. Betroffene beschreiben, dass sie auf solchen Märkten “wie Vieh abgetastet wurden”. In anderen Gemeinden wurden sie wohlhabenderen Familien durch Losentscheid zugeteilt. Zugeloste Familien wurden gezwungen, solche Kinder aufzunehmen, auch wenn sie eigentlich gar keine wollten. Sie wurden meistens auf Bauernhöfen wie Leibeigene für Zwangsarbeit eingesetzt, meist ohne Lohn und Taschengeld. Nach Augenzeugenberichten von Verdingkindern wurden sie häufig ausgebeutet, erniedrigt oder gar vergewaltigt. Einige fanden dabei den Tod. Misshandlungen wurden nur sehr selten verfolgt. Wenn solche behördlich festgestellt wurden, wurde den Pflegeeltern das Recht, neue Verdingkinder zu „erwerben“, für mindestens fünf Jahre entzogen. Neben der Verfolgung der Jenischen durch die Organisation “Kinder der Landstrasse”, deren Kinder selbst häufig von verschiedenen Amtsstellen und (auch privatrechtlichen) Institutionen verdingt wurden, gilt die Verdingung als eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte. Erst in den letzten Jahren griffen die Medien dieses Thema intensiver auf, nachdem es lange Zeit verdrängt worden war. ©verdingbub-derfilm.ch
©Ascot Elite
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Anfrage: Von welchem Interpret sind die 2 Bandoneon Stücke (im Radio der Lehrerin zu hören) im Film der Verdingbub?
…Schade, dass es den Film nicht auf deutsch gibt. Klingt sehr interessant.