von Marc Vogel
Was soll ein Film? Auf diese Frage gibt es, wie die Filmgeschichte zeigt, mehrere Antwortvarianten. Studio-System, Nouvelle Vague, New Hollywood, schon allein diese drei bedeutenden Epochen verdeutlichen die Problematik. Komödie, Drama, Horror, drei verschiedene Genreansätze. Film ist als erstes, inhaltlich wie formell, eine dramatisierte Abbildung der Wirklichkeit. Man mag vom genormten, gerne der Traumfabrik Hollywood zugeschriebenen Filmeinheitsbrei denken, was man will, seine Daseinberechtigung kann man ihm wohl nicht absprechen. Im Gegenzug ist es aber von äusserster Wichtigkeit, auch andere Seiten des menschlichen Daseins dargestellt zu bekommen. Unangenehme Filme mit extremen Themen, die die dunklen Seiten des Menschen behandeln. Im Folgenden geht es neben vielem mehr um sich selbst verstümmelnde Rednecks, andere verstümmelnde Kriegsveteranen und um verstümmelte Seelen. Das Mainstream-Kino scheint in dieser Hinsicht ziemlich tot. Der Heimfilm-Markt jedoch steht in voller Blüte, auch dank der Traum(a)fabrik Störkanal.
Mehr Kunst als Produkt
Als Unterlabel von I-On New Media gegründet, macht es sich die Störkanal-Filmreihe zur Aufgabe „eine fortlaufende Serie außergewöhnlicher und kompromissloser Filmwerke jenseits des Mainstream“ zu veröffentlichen. Als Partner fungiert das Filmmagazin Deadline. Jeder Film erscheint dabei erstauflagig in einheitlichem Design als limitiertes Mediabook inklusive Booklet. Die zwanzig bisher erschienen Filme sind alle mehr Kunst als Produkt. Sie sind fern von Trash, bewegen sich allesamt handwerklich grossartig im Arthouse-Bereich ohne erzählerische Einbusse. Jedes Thema wird intensiv bearbeitet – mit maximalem Gefühlsaufwand aufseiten des Zuschauers. Ein Mann, der den Mörder seiner Tochter sieben Tage lang quält (7 Days). Groteske menschliche Triebe, Menschen, die sich bis zum Erbrechen mit Essen vollstopfen und Menschen, die andere Menschen wie Tiere ausstopfen (Taxidermia). Oder Bürgerkrieg in Ostafrika (RUANDA). Störkanal zeigt die ganz normalen Tage auf der Erde, und das international. Im Folgenden seien ein paar ausgewählte Beispiele empfohlen.
White Lightnin’ (USA, 2009)
Regie: Dominic Murphy / Trailer
Am Anfang war das Licht. White Lightnin’ erzählt den Aufstieg des jungen Jesco White aus den Appalachen in die Welt des Stepptanzes. So der glamouröse Aspekt. Die Wirklichkeit sieht drastisch anders aus. Jesco ist bereits als Kind drogenabhängig. Er beginnt damit, bis zur Bewusstlosigkeit zu hyperventilieren. Greif darauf zu preiswerten Kicks wie Gas- oder Benzinschnüffeln und endet mit einer Heroindosis, die ihn vollends dem Wahnsinn opfert. Der Weg bis zu diesem tragischen Punkt ist gekennzeichnet von Gewalt. „Ihre Ohren waren ab und ihre Münder habe ich so weit aufgeschlitzt, dass sie für immer lachten“, so verfährt Jesco mit anderen Insassen eines Jugendgefängnisses. Das Kind zieht es in einen bösartigen Kreis des Prügels, der Besserungsanstalt, noch mehr Prügel, der Irrenanstalt und eben des Steppens. Jescos Vater ist der lokal berühmte Stepptänzer D. Ray White. In einer Minute kann dieser ganze 52 Mal steppen, nur seinen Sohn kann er nicht retten.
Die blutige und dreckige White-Trash-Tragödie ist in düsteren, schwarzweissen Bildern gehalten. Ganz selten bricht Super 8-Farbe durch und erhellt das Dunkel. Ein so glorifizierender wie nüchterner Ich-Erzähler versucht als Voice-Over durch die Geisterbahn zu führen. Daneben stehen kryptische Naturaufnahmen, mit apokalyptischen Bibelversen unterlegt, die sich erst am Ende erschliessen werden. Zuvor steht Jesco jedoch an einem vermeintlichen Wendepunkt, am Grab seines Vaters. Fortan zwingt er sich in ein „normales“ Leben, begibt sich auf Stepp-Tournee in schummrige Country-Bars. Doch in seinem Kopf wüten Stimmen der Rache, denn sein Vater wurde gewaltsam zu Tode gebracht. Die grandios inszenierte Vergeltung mit einer kongenial treibenden Soundspur – der Soundtrack an sich ist schon das Ansehen wert – wird schliesslich zum Höhepunkt der zermürbenden Tortur. Bezeichnend ist auch die Rolle von Carrie Fisher. Die ehemalige Prinzessin Leia (Star Wars) spielt Jescos ältere Geliebte und spiegelt im Film ihre eigene unglückliche Lebensgeschichte, die geprägt war von Alkohol- und Drogenmissbrauch.
White Lightnin‘ funktioniert somit als Vorbild für die Störkanal-Reihe. Lose an dem echten „Dancing Outlaw“ Jesco White orientiert, der auch am Drehbuch mitgearbeitet hat, benutzt der Berlinale-Teilnehmer von 2009 subtile Kontraste, intensive Charakterdarstellungen und eine unbarmherzige Inszenierung, um dämonischen Kräfte fühlbar zu machen. Die gesamte Filmzusammenstellung ist ein Kaleidoskop der Todsünden.

Alexandra’s Project (2003)
Regie: Rolf de Heer / Trailer
Savage (2009, Irland)
Regie: Brendan Muldowney / Trailer
Rache ist ebenfalls ein Hauptmotiv der beiden aufeinanderfolgenden Erscheinungen Alexandra`s Project und Savage. In Ersterem kommt ein Geschäftsmann nichts Böses ahnend nach Hause, in froher Erwartung seiner Lieben. Doch es kommt ganz anders: Kinder und Frau sind weg, das Haus ist komplett abgedunkelt. Drinnen erwartet ihn ein Videoband mit der Aufschrift „Spiel mich“. Dieses offenbart Abgründe, bricht unzählige Konventionen und überwältigt mit lähmender Ohnmacht.
Ohnmacht ist vorerst auch das einzige Gefühl, das Paul Graynor in Savage bleibt. Er erwacht im Krankenhaus und erinnert sich nur langsam an die schrecklichen Geschehnisse, die ihm widerfuhren. Er wurde Opfer eines Überfalls durch jugendliche Schläger und trägt nun eine lange Narbe als Stigma des Unglaublichen. Was derzeit hitzige Diskussionen unter Politikern, Experten und Normalbürgern verursacht, dem begegnet Savage mit eiskalter Konsequenz: Paul will die Täter selbst zur Verantwortung ziehen.
Weapons (2007, USA)
Regie: Adam Bhala Lough / Trailer
Adam Bhala Loughs Beitrag Weapons reflektiert ebenfalls aktuelle, realistische Probleme der Gesellschaft. Hierin liegt ein weiterer Schwerpunkt der Störkanal-Reihe. Die Themen sind nicht abgehoben, sondern beschäftigen sich mit den dunklen Seiten der Realität. Keine Ausserirdischen, Weltuntergangsszenarien oder Politverschwörungen, sondern der Wahnsinn des ganz normalen Menschenbürgers. So zeigt Weapons den ganz gemeinen Alltag in einer amerikanischen Kleinstadt. Drei weisse Jugendliche treffen sich, reden über ihre angeblichen Frauengeschichten, rauchen Dope. Nur durch das vorhergegangene lyncheske Intro haftet dieser Szene ein ziemlich fader Beigeschmack an:
Während in Slow-Motion ein schwarzer, junger Mann zu einem verzerrten und stockenden off-beat-Sounddesign einen Burger verzehrt, wird ihm das halbe Gesicht weggeschossen. Ein grosser Anfang, dessen Stilistik mit einfachen Mitteln beibehalten wird. Lange Einstellungen werden mit individuellen Close-Ups gepaart. Das mit Handkamera eingefangene Geschehen wirkt so teils dokumentarisch, realistisch, dann aber – in Momenten abrupter Gewaltausbrüche – überzeichnet und comic-mässig, was einen spannenden Kontrast ergibt. Die formelle Gestaltung lässt sich nahtlos auf die Story übertragen. Nun sitzen die Jungs also rum, bis einer die Sonnenbrille auszieht und ein blaues Auge offenbart. Sofort beherrschen Ego und Selbstdarstellung die Szene. „Wäre ich dabei gewesen, ich hätte dir natürlich geholfen.“ Und schon befinden sie sich auf dem Weg, den Schläger aufzusuchen, ohne es eigentlich zu wollen. Einerseits geben die Jugendlichen mit tiefhängenden Hosen und Macho-Gepose die abgeklärte Selbstsicherheit in Person, andererseits wuchern verräterische Pickel in ihren Gesichtern und aus ausweichenden Blicken spricht die eigentliche Schwäche, zusätzlich entlarvt, wenn Weisse sich gegenseitig „Nigga“ nennen. Problematisch wird es erst, als diese unterdrückten Emotionen ein falsches Ventil erhalten, etwa mit den titelgebenden Waffen. Zugegebenermassen ist die Handlung, geschweige denn die Auflösung, von Weapons nicht gerade innovativ, doch die Montage dramatisiert gekonnt. In der Parallelgeschichte ist ein seltsames, schwarzes Killerkommando unterwegs: ein Junge von gerade mal zwölf Jahren, ein vergammelter, verschlafener Typ mit wilder Tina Turner-Mähne und ein schlaksiger Grosser im Anzug, der später noch einen Vorstellungstermin hat. Beide Gruppen wollen sich dem Geheimnis des letzten Abends stellen. Es ist erschreckend, wie wirklich sich dieses Szenario anfühlt. Seltsam mutet nur ein kurzer Moment auf einer Party an, wo sich Teenies auch von Pistolenschüssen nicht beeindrucken lassen. Ansonsten offenbart die Parabel schonungslos die Verzweiflung der Pubertierenden und ihre Unfähigkeit zu freundschaftlichen wie sexuellen Beziehungen, ohne psychologische Urteile zuzulassen. Mit Anklängen an Regisseur Larry Clark, an La haine oder Paranoid Park ein aufwühlendes Filmerlebnis, bedeutend ebenso im Kontext der jüngsten “London Riots”.
Beautiful (2009, Australien)
Regie: Dean O’Flaherty / Trailer
Der bereits 2009 entstandene Beautiful nimmt den Zuschauer mit ins vorstädtische Australien. Zu einer scheinbar gewöhnlichen Wohnstrasse, hoch oben in den Sunshine Hills. Die Nachbarschaft wohnt hier in schmucken Häuschen mit hübschen Vorgärten. An einem Ende der Strasse wohnt Danny, bei Vater und Stiefmutter. Der Vierzehnjährige interessiert sich vor allem für Bücher und Fotographie, was womöglich zu seinem Aussenseitertum beiträgt. Doch frönt er noch einem anderen Interesse, einem geheimen Objekt der Begierde namens Suzy. Die hübsche Lolita wohnt nebenan und sonnt sich gerne im knallroten Bikini. Dass Danny voyeuristisch seine Gedanken auf Fotos festhält, stört sie nicht, sie provoziert es sogar. Einen Steinwurf entfernt, am anderen Ende der Strasse, steht das Haus mit der Nr. 46. Es ist ein unheimliches Haus, tagein, tagaus steht eine mysteriöse Dame in Weiss am Fenster und blickt verloren ins Leere. Eine ganz gewöhnliche Nachbarschaft, mit all ihren kleinen Geheimnissen. Doch die letzten Wochen waren anders, Angst prägt seit einiger Zeit die Vorstadtidylle. Drei junge Mädchen sind spurlos verschwunden. Die einen tun sie als Ausreisserinnen ab, die anderen schwören, sie wären aufgeschlitzt und an einer Wäscheleine aufgehängt gefunden worden. In diesen Kriminalfall wird nun auch Danny gezogen. Seine Neugierde nutzt Suzy aus, um ihre eigene Neugierde zu befriedigen. Sie stellt den feinfühligen Jungen als Spitzel an und ködert ihn mit ihren verheissungsvollen Lippen. Keiner ahnt, wie gefährlich die Lage wirklich ist…
Jeder kennt die Gefahr Pubertät und die erlebt hier ein besonderes Coming-of-Age. Ein Kind wird zum Jungen, es verliebt sich und verliert schon bald seine Unschuld. Mit messerscharfer, schwarzer Ironie seziert Regisseur Dean O’Flaherty dabei das (australische) Bürgertum. Die spiessige Fassade bröckelt hier schon lange. Sebastian Gregory verkörpert hervorragend den zwischen Kindsein und unbarmherzigen Tatsachen der Erwachsenenwelt taumelnden Jungen. In seiner dichten Atmosphäre erinnert das Treiben an Meisterwerke wie The Virgin Suicides, Blue Velvet oder American Beauty, ist so eine Art “Australian Beautiful“. Als tragendes Element wirkt die Musik, die grossartig komponiert durch die düstere, ambivalente Welt führt. Viele Fragen werden aufgeworfen, glücklicherweise werden aber nur die allernötigsten Antworten geboten.
Hunger (2009, USA)
Regie: Steven Hentges / Trailer
Störkanal insgesamt verweigert sich eindeutigen Aussagen. Wie die Filmreihe „Kino Kontrovers“ beschäftigt sie sich fragmentarisch mit wichtigen Fragestellungen zur Lage vom Individuum in der Gesellschaft. Urteile über Personen oder Verhaltensweisen bleiben dabei alleine dem Zuschauer überlassen, was eine Polarisierung fördert. Um der Intensität der Filme willen, sollte die Original-Tonspur bevorzugt werden.
Die Protagonisten in Hunger stehen nur vor einer Entscheidung: Soll ich oder soll ich nicht? Doch die hat es in sich. Fünf einander unbekannte Menschen wachen in einem dunklen Verliess auf. Wasser steht genügend zur Verfügung, nur kein Essen. Dafür ein Messer mit schön langer Klinge. Dass die Gruppe genauso gut in einem beliebigen Teil der Saw-Franchise hätte aufwachen können, scheint nur oberflächlich richtig. Inhaltlich wie formell gibt es deutliche Abweichungen.
Bedevilled (2010, Südkorea)
Regie: Jang Chul-soo / Trailer
Eine andere Form von Eingesperrtsein behindert die ehemals besten Freundinnen Bak-nam und Hae-won in dem südkoreanischen Psychomär Bedevilled. Beide stammen von einer einsamen Insel, Hae-won zog es dann aber in die nahe Grossstadt Seoul. Hier wurde sie nie recht glücklich, was schliesslich in einen Nervenzusammenbruch mündet. Zur vermeintlichen Erholung schifft sie sich in ihre alte Heimat ein. Ein Fehler, denn ihre zurückgelassene Freundin ist mittlerweile zur Sklavin des Dorfes verkommen. Sie wird psychisch und physisch gedemütigt und vergewaltigt. Immer wieder. Das Wiedersehen mit der alten Vertrauten lindert die Schmerzen kurzweilig, doch vor allem ermöglicht es ein Ausbrechen in eine ungewisse Zukunft. Der Blutmond leuchtet über der Insel und ein Gewaltinferno besonderer Härte zieht in Gestalt von Bak-nam darüber hinweg.
Red White & Blue (2010, USA)
Regie: Simon Rumley, / Trailer
Ein derartig dramaturgischer Wendepunkt vom Drama hin zum Psychohorror ist in der Theorie eigentlich ein Unding. Doch bereits Horror-Urahn Psycho zeigte, dass sogar ein Hauptpersonenwechsel wunderbar überwunden werden kann. Mit diesem kontrastierenden turning point spielt auch Red White & Blue, einer der stärksten und nachhaltigsten Filme der Reihe. Erica verbringt ihr Nachtleben in rötlich schimmernden Bars, die sie dann gerne mit einem Typen oder gleich einer ganzen Rockband verlässt. Ihr einziges Credo dabei: nicht bei den Fremden übernachten, nicht verlieben und nie ein zweites Mal. Zuhause duscht sie sich gründlich mit Kernseife, auch wenn nicht alle getroffenen Männer Idioten sind. Dann allerdings beginnt sich ein seltsamer, bärtiger Mann für sie zu interessieren, der in derselben Pension haust. Er lässt sich nicht abwimmeln. Als nächstes verschafft er ihr eine gute Arbeitsstelle, seine Absichten lassen sich nur erahnen. Er scheint ihr so eine Art Vaterfigur sein zu wollen und Erica geniesst die ungewohnte Nähe schliesslich. Ein erster Wendepunkt, nun folgt die Geschichte dem Gitarristen der eingangs eingeführten Rockband. Auch sein Leben beginnt sich zum Positiven zu wenden: Die Band erhält Gigs in Europa, seine alte Freundin kehrt zu ihm zurück und zu guter Letzt geht es seiner kranken Mutter bedeutend besser. Doch es soll alles anders kommen. Viel mehr sei nicht verraten, denn Red White & Blue fasziniert mit einem intensiven und aufreibenden Spannungsbogen. Langsam taucht die Schuldfrage aus dem Nebel, während immer mehr Leid entsteht. Die intelligente Reflexion über Schuld lässt allerdings keinerlei Schlüsse zu, die Sympathie liegt bei allen Beteiligten. Drehbuchautor, Regisseur und Produzent Simon Rumley ist damit eine moderne Variation von The Last House on the Left gelungen. Red White & Blue kommt aber deutlich perfider daher und wird mit ihrer Härte lange im Gedächtnis bleiben.
Genauso verhält es sich mit der gesamten Störkanal-Reihe. Die nächsten Neuerscheinungen werden Ecstasy und Cherry Tree Lane sein – Filme über das gefährliche Verhalten vierer Schülerinnen sowie über einen ungebetenen, nächtlichen Besucher. Die Erwartungen sind hoch, denn alles kann passieren. Jeder Film gleicht einem Kopfüber-Sprung ins Ungewisse. Ein Film darf alles sein – ausser langweilig. (Marc Vogel)
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