Eine ruhige Jacke
von Severin Auer
Ramon Giger nähert sich dem Thema Autismus mit offenen Augen. Distanziert, aber einfühlsam lässt er die Bilder sprechen, Erklärungen gibt er keine. „Eine ruhige Jacke“ ist auch ein fragmentarisches Porträt eines autistischen jungen Mannes, aber Giger erkundet besonders die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Roman und dem Betreuer Xaver.
Roman ist Autist. Der sechsunzwanzigjährige Mann spricht nicht, lebt in seiner eigenen, inneren Welt. Die direkte Kommunikation ist schwierig. In der Wohn- und Arbeitsgemeinschaft in Roderis, die Menschen mit Autismus und anderen Wahrnehmungsverarbeitungs-Störungen Hilfe und einen geregelten Alltag bietet, findet er ein Zuhause. Romans engste Bezugsperson ist Xaver. Geduldig leitet der neunundfünfzigjährige den jungen Mann zur Waldarbeit an und scheut sich nicht, Roman auch eine Motorsäge in die Hand zu legen. Ein kalkuliertes Risiko? Wenn Roman im Flur des Wohnheims steht, sich die Ohren zuhält, Geräusche macht und ruckartige, unvorhersehbare Bewegungen ausführt, glaubt man, er habe sich der uns erfahrbaren Welt verschlossen. Der Schein trügt. Roman ist hellwach. Mithilfe einer Holztastatur, auf der er, unterstützt durch eine Betreuerin, einen Buchstaben nach dem anderen antippt, werden aus unverständlichen Lauten überraschend klare Worte. Er versteht die Gefahr einer Kettensäge, die Kraft eines Verbrennungsmotors und Xavers mahnende Worte. Aber Roman ist auch unruhig. Wenn es darum geht, das Gelernte im Wald umzusetzen, braucht er lange, bis er sich die Schutzkleidung übergezogen hat. Hat er keine Lust, rennt er trotz sorgfältigem Zureden durch Xaver, wieder zurück zum Bauernhof. Der Betreuer hat es nicht einfach, das weiss auch Roman: „Ich war gemein…“ übermittelt er dem Regisseur.
Am Anfang stand ein Zivildiensteinsatz von Ramon Giger, bei dem er Roman und Xaver kennenlernte. Für seinen Dokumentarfilm beabsichtigte er vorerst Wahrnehmungsphänomene eines Menschen mit autistischen Störungen zu erkunden. Dafür drückte er Roman eine Videokamera in die Hand. Giger versprach sich damit, durch die Augen der autistischen Person sehen zu können, doch er rückte aus zweierlei Gründen von der Idee ab. Einerseits wären die von Roman mit grossem Interesse gefilmten Bilder Bestandteil einer (nur) subjektiven, externen Interpretation geworden und andererseits war die Beziehung zwischen Roman und Xaver so stark, dass sich Giger für die zwischenmenschliche Ebene von Distanz und Nähe, Verstehen und Anteilnahme zu interessieren begann. Es ist der Versuch, das Vorurteil, ein gänzlich verschlossenes Individuum vor sich zu haben, aufzubrechen. Sehr schnell wird klar, dass Roman, trotz seiner Eigenheit, Zuneigung und Aufmerksamkeit von „aussen“ benötigt und sich auch erhofft. Die Anwesenheit einer Kamera, die einen Dokumentarfilm über ihn macht und ihn damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, schmeichelt ihm. Die Selbstinszenierung mit der eigenen Handkamera in seinem Zimmer, unterscheidet sich kaum von der heutigen Facebook-Jugend. Die Suche nach Aufmerksamkeit, der Wunsch wahrgenommen zu werden ist Teil des menschlichen Seins. Doch Roman wechselt zwischen “seiner” und “unseren” Welt. Immer wieder vertieft er sich in ein Detail, beobachtet und ertastet, bevor ihn Xaver auffordernd an die Arbeit zurückholt.
Giger bleibt mit seiner Kamera der stille Beobachter. Er verweilt genauso geduldig wie Xaver, gespannt, wie Roman auf bestimmte Situationen reagieren wird. Genau hier entstehen intensive Momente. Nicht nur weil Roman in seinen Aktionen unvorhersehbar erscheint, sondern weil auch Xaver stets einen Drahtseilakt zwischen Erfolg und Misserfolg seiner betreuerischen Tätigkeit wagt. Manchmal hängt die Geduld am seidenen Faden, manchmal ist die Enttäuschung, wenn sich Roman, trotz gutem Zureden, der Arbeit verweigert, drückend spürbar. Die schwierige, aber enge Beziehung zwischen Xaver und Roman wird dem Zuschauer schlussendlich mit einem unerwarteten Schicksalsschlag in seiner Essenz vor Augen geführt. Eine ruhige Jacke ist ein bewegender Dokumentarfilm, der trotz seiner offenen Herangehensweise enorm viele Erkenntnisse liefert.
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[box border=”full”]Eine ruhige Jacke (2010)
Deutsch: –
Land: USA
Regie: Ramon Giger
Drehbuch: Ramon Giger
Personen: Roman Dick, Xaver Wirth, u.a.
Kamera: Ramon Giger
Schnitt: Roland von Tessin
Musik: Paul Giger, Benjamin Kilchhofer
Laufzeit: 74 Minuten
Start CH: 22.12.2011
Verleih: Cineworx
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©Cineworx
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