Severin Auer
Zwei Autoren blicken zurück auf das vergangene Kinojahr 2011 und präsentieren euch ihre persönliche Top 10. Den ersten Teil findet ihr hier.
10. Der Sandmann (Trailer)
Das deutschschweizer Kino wird zu Zeit von nostalgischen und folkloristischen Filmen dominiert. Selbst der letztjährige Kassenschlager Sennentuntschi hatte eine Berglersage zur Grundlage und für 2012 kündet sich bereits die Neuverfilmung über das Berner Stadtoriginal Dällebach Kari an. Dazwischen Dokumentarfilme wie Hoselupf, Wätteschmöcker und Die Kinder vom Napf. Peter Luisis Der Sandmann (Ein Sommersandtraum) war hingegen eine erfreulich erfrischende Komödie mit surrealem Touch. Benno, Briefmarkenhändler und gescheiterter Musiker, verliert Sand. Das ist nicht bloss eine „schöne Metapher“, wie sein Psychiater in einem Gespräch festhält, sondern eine ernstzunehmende physische Bedrohung. „Du rislisch“, stellt Bennos Chef mit gespitzten Ohren fest. Bald nimmt der Sandverlust nicht bloss wortwörtlich traumatische Ausmasse an, sondern steht auch in Zusammenhang mit der Cafébetreiberin Sandra, die nachts als Einfrauorchester ihren ganz eigenen Träumen nachhängt und Benno, der im 1. Stock über dem Café seine Wohnung hat, den Schlaf raubt. Alles nur Fantasie oder verrückte Realität? Der Sandmann, innovativ, verträumt und erfrischend komisch. So dürfen Schweizer Filme öfters sein.
9. La piel que habito (Trailer)
Regisseur Pedro Almodovar erzählt eine verschachtelte Geschichte, zwischen Frankenstein, Seifenoper und Rachelust angesiedelt, die sich auf wunderbare Weise vor den Augen des Zuschauers entfaltet. Er verzichtet nicht auf sein melodramatisches Grundkonzept, bereichert es aber mit dem Element des Thrillers und macht leichte Anleihen beim Horror-Genre, lässt das ihm sonst so eigene, ironische Augenzwinkern, das die überhöhten und schicksalshaften Wendungen zur intellektuellen Telenovela verkommen liesse, in seinem jüngsten Streich aber gänzlich sein. Antonio Banderas schlüpft in die Rolle des Dr. Robert Ledgard, der in seinem Keller menschliches Genmaterial mit dem von Schweinen mischt und an der perfekten Haut forscht. Seine einzige Patientin hat er in einem Zimmer eingeschlossen. Vera (Elena Anaya) ist Versuchs- und Liebesobjekt zugleich. Ihre Identität offenbart Almodovar nach etwa der Hälfte des Films und gibt der Geschichte eine neue Wendung. Teils heftig und fordernd, immer bewegend und mitreissend und in seiner glaubhaften Absurdität faszinierend.
8. Rango (Trailer)
Die vergangenen 10 Jahre waren für Hollywood nicht nur die Dekade der Comicverfilmungen und der Sequels, sondern auch der computeranimierten Filme. Was 1995 mit Toy Story begann, entwickelte sich im neuen Jahrtausend zu einem sicheren Wert für hohe Zuschauereinnahmen. Leider senkt sich mittlerweile auch hier die Risikofreude der Studios. Geschichten werden nach formelhaftem Schema geschrieben und Sequels am Laufband produziert. Da war es äusserst erfrischend, einen grossen Hollywood-Animationsfilm in den Kinos zu sehen, der sich nicht mit exorbitantem Budget überwarf und das Zielpublikum nicht im Voraus definierte. Regisseur Gore Verbinski liess sich bei der Produktion auch nicht verbiegen und lieferte prompt den erfrischendsten und amüsantesten computeranimierten Film des Jahres. Rango ist ein Chamäleon, ein Haustier aus der Stadt, das durch einen Zwischenfall aus seinem Terrarium geschleudert wird und mitten in der Wüste landet. Von grossen Abenteuern hat Rango immer geträumt, doch jetzt fühlt er sich doch etwas verloren. Auf der Suche nach Wasser gelangt er in eine abgelegene Wüstenstadt voller schrulliger Tiere, die in ihm den Retter in Not sehen und ihm den Sheriff-Stern anheften. Ein waschechter Western, gespickt mit vielen Filmzitaten und in einem detaillierten Look gehalten.
7. The Fighter (Trailer)
Geschichten die auf wahren Begebenheiten basieren, haben oft einen besonderen Reiz. So auch das von David O. Russel inszenierte Boxerdrama um die beiden Halbbrüder Mickey Ward (Mark Wahlberg) und Dicky Eklund (Christian Bale). Der eine mit Potential ein grosser Boxer zu werden, der andere ein Cracksüchtiger, der von vergangenen Erinnerungen lebt. Sie sind Teil einer White Trash-Familie, ein enger Kreis, in dem Egoismus unter dem Deckmantel der familiären Bande wuchert. Der ruhige Mickey wirkt dazwischen verloren. Er weiss, wenn er seine Karriere voranbringen will, muss er Abstand von seiner lauten Familie gewinnen, ein schwerer Schritt. Regisseur Russel gelingt ein beeindruckender Film, der sich intensiv mit den zwischenmenschlichen Problemen beschäftigt und nahe an den Figuren bleibt. Er inszeniert kein aufgeblasenes Sportlerdrama um Ruhm und Erfolg, wirft keinen moralisierenden Blick auf die familiäre Schieflage und bewahrt damit, trotz des ungeschönten, aufrichtigen Blicks auf die Familienmitglieder, die Würde der realen Personen. Intensiv und grossartig gespielt vom gesamten Ensemble.
6. La petite Chambre (Trailer)
Das Werk der beiden Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond war der letztjährige Schweizer Oscar-Beitrag und erreichte in der Deutschschweiz mit 23’000 Eintritten nur halb so viele Zuschauer wie in der Romandie. Dennoch, die einfühlsame Geschichte über die Altenpflegerin, die mit dem Schicksalsschlag eines ungeborenen Kindes zu kämpfen hat und im pflegebedürftigen Sturkopf Edmond eine emotionale Bindung und Bestimmung findet, war ein Erfolg. Trotz schwerer Themen wie Verlust und Einsamkeit, der Suche nach Halt und dem Wunsch nach Freiheit, zeigt der Film einen hoffnungsvollen Unterton mit feiner Komik in den treffenden Dialogen. Sensibel und herausragend gespielt von Florence Loiret Caille und Michel Bouquet. Nicht umsonst durften die Regisseurinnen im vergangenen März auch den Schweizer Filmpreis Quarz für den besten Schweizer Film und das beste Drehbuch entgegennehmen.
5. Winter’s Bone (Trailer)
Kaum ein anderer Film hat im Kinosaal seine bedrohliche Stimmung so eindrücklich entfaltet wie der Film von Debra Granik. Das Backwood-Drama entführt in farblosen Bildern ins Hinterland von Missouri, in dem Ree Dolly (Jennifer Lawrence) in bitterarmen Verhältnissen mit ihrer psychisch kranken Mutter und ihren Geschwistern lebt. Der Vater hat Haus und Land für seine Kaution verpfändet und ist untergetaucht. Der Familie mangelt es an Essen und der nahende Winter bietet keine erträglichen Bedingungen für potentiell Obdachlose. Also macht sich die 17-jährige auf die Suche nach ihrem Vater, stösst in den Nachbarhäusern und bei den Verwandten auf offene Ablehnung, Hass und Gewaltandrohung. Granik inszeniert die fast schaurige Geschichte unglaublich fassbar und authentisch. Es ist eine bedrohliche Welt, ein undurchdringbarer Mikrokosmos, dem selbst Polizei und Gesetz lieber fernbleiben.
4. Black Swan (Trailer)
Darren Aronofsky hieft Tschaikowskys Ballett Schwanensee von der Bühne und zieht die Zuschauer zusammen mit der Protagonistin Nina (Natalie Portmann) ins Delirium. Realität und Fiktion verschwimmen. Die paranoide Projektion des düsteren Doppelgängers ist Ausdruck eines verunsicherten Mädchens, das die Wandlung zur jungen Frau vollzieht. Der Austritt aus der Obhut der strengen Mutter, die verschärfte Konkurrenzsituation im Ballett und die hohen Ansprüche einer Perfektionistin zeigt Aronofsky als intelligenten Psycho-Horror und subjektive Wahnvorstellung, in die man fasziniert abtaucht. Beeindruckend zerbrechlich gespielt von Natalie Portman.
3. A Separation (Trailer)
Simin will den Iran verlassen, um jeden Preis. Dafür wird sie auch die Scheidung einreichen, sollte ihr Mann Nader nicht mit ihr mitkommen. Doch die Situation ist schwierig. Nader muss den an Alzheimer leidenden Vater betreuen und die gemeinsame Tochter Termeh möchte ihre Schulfreunde nicht verlassen. Simin zieht vorübergehend aus, in der Hoffnung, sie müsse nicht alleine emigrieren. In der Zwischenzeit stellt Nader die hochschwangere Somayeh als Putzhilfe ein. Jene hat aus religiösen Gründen aber Schwierigkeiten mit der Körperpflege des alten Vaters und erzählt ihrem Mann nichts von ihrer Arbeit. Als eines Tages Nader seinen Vater ans Bett gefesselt vorfindet und Geld fehlt, entlässt er die Putzhilfe und stellt sie forsch vor die Türe. Bald wird er beschuldigt, das noch ungeborene Kind der Putzhilfe getötet zu haben. Diese ausführliche Darlegung der Umstände zeigt die komplizierte Verästelung des Falles, bei dem der Zuschauer permanent vor die Wahl gestellt wird, mit welcher Seite und mit welcher Person er sympathisieren soll. Der Film entwickelt sich zu einem spannenden Drama, das die Handlungen der einzelnen Personen nachvollziehbar darzulegen versucht. Moralische, religiöse und juristische Ansichten werden zusammen verwoben und Regisseur Asghar Farhadi blickt dabei tief in die Seele der Menschen.
2. The Tree of Life (Trailer)
Terrence Malick meldete sich nach einer sechsjährigen Pause mit einem epischen Werk zurück. Das Unterfangen, die Entstehung der Welt und das Leben einer bürgerlichen, texanischen Familie in den 1950er-Jahren miteinander zu verbinden und auf die Leinwand zu bringen, sorgte weltweit für gespaltene Meinungen. Der Film des Jahres oder ein kläglich gescheiterter Versuch? Malick folgt keiner klassischen Erzählung, konzipiert den Film vielmehr als visuelles und akustisches Erfahrungskino. Ein beeindruckender Bilderrausch, mit religiösen Themen durchtränkt und stets auf der Suche nach dem Anfang von allem und auf der Suche nach Gott. The Tree of Life ist die Sichtbarmachung eines überwältigenden Gedankenstroms voller Fragen und berührender Momente, getragen von Brad Pitt und Jessica Chastain, wie auch den beeindruckend glaubwürdigen Kinderschauspielern. Wahrlich berauschend.
1. Melancholia (Trailer)
Mit seinem letzten Film Antichrist (2009) hat Lars von Trier provoziert und irritiert. In ästhetischen Bildern trieb er den Zuschauer zusammen mit den Protagonisten in eine verstörende Abwärtsspirale. Sein kommendes Projekt The Nymphomaniac könnte ein Arthouse-Porno werden, auch hier ist ein kleiner Skandal und viel Gerede vorprogrammiert. Von Triers Melancholia ist, an jenen Massstäben gemessen, ein zahmes Werk. Vielleicht hat sich der dänische Regisseur gerade darum in ungeschickte Nazi-Äusserungen verstrickt, um doch noch einen Skandal herbeizuzaubern. Ganz so unüberlegt und hilflos wie er sich zuweilen gibt, ist von Trier dann nämlich doch nicht. Wie sonst könnte er mit Melancholia erneut ein so intensives, mit mythologischen Andeutungen getränktes und mitreissendes Werk vorweisen. Es ist das bedrückend schöne Porträt zweier Schwestern, die, im Zuge der unvermeidlich drohenden Kollision mit einem nahenden Planeten, das bevorstehende Ende allen Lebens auf der Erde vor Augen haben. Das Ende nimmt von Trier in ästhetisch gefilmten Zeitlupenaufnahmen vorweg, dazu erklingt die Ouvertüre von Wagners Tristan und Isolde. Mit der Kenntnis über das Unausweichliche wirkt das unharmonisch verlaufende Familienfest umso drückender, die darauf folgende, sich langsam ausbreitende Hoffnungslosigkeit umso verzweifelter. Von Trier setzt erneut auf starke Frauenfiguren, herausragend gespielt von Charlotte Gainsbourg und Kirsten Dunst. Mit dem drohenden Weltuntergang verkehren sich die Schwestern langsam in ihr Gegenüber, die so unausweichlich füreinander bestimmt sind, wie die Erde und der sich rasant nähernde Planet Melancholia.
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