Wo die Bildungsfähigkeit über den Wert eines Menschen entschied
von Anne Konz
Rolf Lyssy fokussiert in seinem Dokumentarfilm das Mutter-Tochter-Verhältnis zwischen Pflegemutter Anita Utzinger und der schwer behinderten, tauben und blinden Ursula. Er nimmt die Zuschauer mit auf eine Reise an die Grenze zu Ursulas Welt, bleibt als Beobachter gleichzeitig nah und distanziert, beantwortet aber keine neu aufkeimenden Fragen.
Ursula, mittlerweile 60 Jahre alt, sieht immer noch wie ein Kind aus: Klein, verträumt und in ihre eigene Sinneswelt zurückgezogen. 1951 kam sie in der Schweiz zur Welt und wurde gleich nach der Geburt von ihrer Mutter verstossen. Schon während ihrer ersten Lebensmonate stellte sich heraus, dass sie gehörlos und blind ist, und dass neben dem Hör- und Sehzentrum auch weitere Teile ihres Gehirns nicht voll entwickelt sind. Als solchermassen schwer behindertes Kind, als „Idiot“ wurde Ursula in den folgenden Jahren von Heim zu Heim geschoben, „unzumutbar“ für die Pflegerinnen, vor allem weil sie viel schrie, wie das ein Mensch eben so tut, wenn seine Bedürfnisse grob missachtet werden.
Zur selben Zeit absolvierte Anita Utzinger, eine junge Zürcher Heilpädagogin für taubblinde Kinder, ein weiterführendes Studium in den USA, wo der medizinische Wissenstand schon fortgeschrittener war. Sie fand Ursula nach ihrer Rückkehr in einem Heim im Toggenburg. Sofort war klar, dass sie sich um dieses Kind kümmern und Ursula zu sich nehmen wollte. Utzinger verzichtete auf ein „normales“ Familienleben und behandelte Ursula wie ihr eigenes Kind. Mit enorm viel Geduld und durch stete Wiederholungen war es mit der Zeit möglich, dem Kind sitzen und laufen beizubringen. Ebenso versuchte sie „Ursie“ kurze Wörter zu lehren, über die Vibrationen, die das Kind trotz allem wahrnehmen konnte. Von ihrem Umfeld erfuhren die beiden viel Ablehnung, erreichten durch eine Reise in die USA aber Bekanntheit, weil sie die damals gefestigte These, man könne geistig behinderten Menschen nichts beibringen, öffentlich in Frage stellten. Nur, weil dort ein Gutachten erstellt wurde, das Ursula als „bildungsfähig“ ansah, bekam sie überhaupt IV-Unterstützung zugesprochen. Ist ein Mensch nur dann ein Mensch, wenn er lernen kann?
Nach vielen Jahren – auch im Appenzeller Ferienhaus, wo Ursula sich heute noch zu Hause fühlt – sah sich Anita Utzinger wegen ihres Alters nicht mehr in der Lage, Ursulas Bedürfnissen gerecht zu werden und sie weiter betreuen zu können. Gemeinsam fanden sie durch glückliche Fügung bald einen Platz in einer Betreuungsstätte für gehörlose und blinde Menschen, mit neuen Bezugspersonen und Mitmenschen, denen es ähnlich geht wie Ursula. Bis heute besuchen sich die beiden gegenseitig.
Bereits in den 1960er-Jahren wurde über Ursula ein Film gedreht, Ursula oder das unwerte Leben von Reni Mertens und Walter Marti (mit Regisseur Rolf Lyssy als Kameramann). Der Film zeigte auch die Missstände in der damaligen Betreuung auf, die im Vergleich zu heute oft grausam erscheinen. Heute erfährt Ursulas eigenes Tempo viel grössere Rücksicht. Das Heim „Tanne“ ermöglicht ihr viel Abwechslung – zum Beispiel reitet sie gern – und versucht sie bei alltäglichen Aufgaben zu integrieren. Rolf Lyssy (Die Schweizermacher) bleibt ein Meister darin zu hinterfragen, was „normal“ überhaupt sein soll, lenkt die Aufmerksamkeit in diesem Film aber ganz besonders auf das Mutter-Tochter-Verhältnis zwischen Utzinger und Ursula. Utzinger selbst führt mit ihren Erzählungen, die in Interviews mit Lyssy entstanden sind, durch den Film, um die Zuschauer näher an Ursulas „Anderswo“ zu bringen. Ihr selbst sei es nie vollständig gelungen, dorthin zu gelangen. Immer wieder sind biographische Einschübe aus dem früheren Film und alte Dokumente zu sehen, am Anfang chronologisch geordnet, später unregelmässig und ohne Reihenfolge. Damit löst sich der rote Faden immer mehr auf, das Erzähltempo gleicht sich immer mehr demjenigen von Ursula an.
Über die Änderungen in der Betreuung geistig schwer behinderter Menschen erfährt der Zuschauer allerdings wenig. Hat sich die Haltung der Mitmenschen wirklich geändert? An Utzinger lässt sich gut beobachten, wie diese ihr „Kind“ lieb gewann. Aber was ist in der Gesellschaft passiert? Gibt es heute mehr medizinische Möglichkeiten, solchen Menschen das Leben zu erleichtern? Und: Wollen taube Menschen ihre eigene Welt stärken und etablieren, oder suchen sie nach Möglichkeiten, um sich an die „Normalität“ anpassen zu können? All diese Fragen bleiben unbeantwortet. Es war eine DVD des Films aus den 60er-Jahren, die Anita Utzinger und Rolf Lyssy für den neuen Dokumentarfilm zusammenbrachte. Vielleicht wird es auch von Ursula – Leben in Anderswo eine DVD geben, auf der all die Fragen beantwortet werden. Den Rahmen dieses Films hätten sie eindeutig gesprengt.
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[box border=”full”]Ursula – Leben in Anderswo (2012)
Deutsch: –
Land: Schweiz
Regie: Rolf Lyssy
Drehbuch: Walo Deuber
Kamera: Elia Lyssy
Schnitt: Rainer M. Trinkler, Rolf Lyssy
Musik: Geschwister Küng, Micha Bar-Am, Omri Hason, Delia Mayer
Laufzeit: 86 Minuten
Start CH: 12.01.2012
Verleih: Filmcoopi
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