Es war ein starker Jahrgang, das 65. Jubiläumsjahr: ein kaum zu überbietender Starauflauf, grosse Regie-Legenden und ein gutes Mass an hoher Filmqualität. Es war das Jahr nach Boyhood und The Grand Budapest Hotel. Hollywood-Gazetten wie Hollywood Reporter und Variety, die täglich ihre Ausgaben verteilen, sehen das Berliner Festival als früher Startschuss für die Oscar-Saison – vor allem dank des vielen „Buzz“, den diese beiden Filme im vergangenen Jahr ausgelöst haben. Es wird sich noch zeigen, ob sich diese Einschätzung wieder bestätigt. Dagegen spricht allerdings, dass in diesem Jahr keine klaren „Überfilme“ ausfindig gemacht werden konnten, die Qualität – vor allem im Wettbewerb – war jedoch höher als in den letzten Jahren. Und das trotz bunter Mischung aus unterschiedlichsten Genres und künstlerischen Ansätzen. So fand der neue und wie gewohnt politisierende Film von Jafar Panahi (Taxi), der den Goldenen Bären gewann im gleichen Wettbewerb Platz wie das deutsche One-Take-Wunder Victoria und Wim Wenders 3D-Melodrama Every Thing Will Be Fine. Ganz zu schweigen von Peter Greenaways wohltuend absurdem Eisenstein in Guanajuato oder Terrence Malicks Hollywood-Parabel Knight of Cups.
Über den Wettbewerb hinaus in die Nebenreihen des Panoramas und des Forums, aber auch in den Gala-Premieren kristallisierte sich ein spannendes Gender-Thema heraus, welches das diesjährige Festival prägte. Tragische und verletzte Männerfiguren und starke, heldenhafte, manchmal aber auch etwas psychotische Frauenbilder fielen auf.
Die Schattenseite des Ruhms
Kurt Cobain zählt zu den tragischsten Figuren der Musikgeschichte. Mit Cobain: Montage of Heck (Panorama Dokumente) hat ihm Brett Morgan nun auch ein filmisches Denkmal gesetzt. Der Dokumentarfilm ist der erste von Cobains Familie authorisierte Film und lässt neben seiner berühmten Witwe Courtney Love auch seine Eltern und Schwester zu Wort kommen. Morgans Interesse gilt vor allem der Persönlichkeit, die hinter dem Rock-Ikonen-Image Cobains steckt und beginnt seine filmische Aufarbeitung in der frühen Kindheit, die von einem zerrütteten Familienverhältnis geprägt war. Mittels Animationen, Ton- und Video-Aufnahmen, vielen Tagebucheinträgen und Notizen wird die traurige Kindheit eines äusserst sensiblen und höchst talentierten Kindes nachgezeichnet, das wegen mangelnder Zugehörigkeit und Zuneigung auf die schiefe Bahn gerät. Es sind zwei Dinge in Cobains Leben, die einen aussergewöhnlichen Einfluss auf ihn hatten: seine Musik und seine Liebe zu Courtney Love, aus der ein Töchterchen resultierte. Erstere verhalf ihm zu einem kometenhaften Aufstieg und Weltruhm und die Geburt seiner Tochter brachte ihn wieder auf die richtige Bahn. Aber nur für kurze Zeit: denn wie in Morgans Film unverblümt gezeigt wird, war Cobain nebst grandiosem Musikkünstler eben auch ein Junkie und das hat ihn das Leben gekostet, gleichzeitig auch unsterblich gemacht. Vor der Vorführung seines Werks hat Morgen gemeint, dass sein Film das Gefühl vermittle, Kurt Cobain zu kennen und einen guten Kumpel wiederzusehen. Der Film stimmt aber auch traurig, denkt man an das musikalische Potential, das mit ihm verloren ging.
Dass Berühmtsein nicht zwingend glücklich macht, lehren uns nicht nur Musiker immer wieder auf fatale Weise, auch Angestellte der Filmbranche neigten in der Vergangenheit schon unzählige Male zu selbstzerstörerischen Tendenzen. Filme wie The Player, Leaving Las Vegas, Mulholland Drive oder Boogie Nights zeigten auf selbstreferenzielle Art die aussaugende und monströse Zerstörungskraft, die von der Filmindustrie ausgeht und wie sie zur Albtraumfabrik mutieren kann. Verblüffend ist, dass mit Terrence Malick nun ein Regisseur sich dieser Thematik annimmt, der sich seit Jahrzehnten aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Da stellt sich unweigerlich die Frage, ob er dabei selbst über genügend Kenntnisse verfügt, um diese Scheinwelt zu entlarven. Er selbst wird die Frage wohl unbeantwortet lassen. In Knight of Cups (Wettbewerb) spielt Christian Bale einen erfolgreichen Schauspieler, der sich den hedonistischen Lebensstil seiner Zunft angeeignet hat, jedoch trotz schöner Fassaden äusserst Unglück wirkt. Ständig umgeben von atemberaubenden Frauen wie Imogen Poots, Teresa Palmer, Cate Blanchett oder Natalie Portman wirkt er beinahe wie ein Geist, der zwar da und doch irgendwie abwesend ist. Malicks beliebtes Stilmittel des „stream of conciousness“, wodurch mittels Voice-over die Gedanken in Form eines inneren Monologs das Visuelle kommentieren, verstärken diesen Eindruck. Dadurch geht von Bales Figur nahezu kein direkter Dialog aus. Hinzu kommen erneut die fliessende, schwebende Kamera von Emmanuel Lubezki und die einprägende Musik von Hanan Townshend. Die philosophischen Monologe lassen viel Raum für Interpretationen und der Bilderfluss lädt ein, sich einfach treiben zu lassen. Anders als in The Tree of Life, der linearer wirkte und den Zyklus des Lebens dichter erzählte, wirkt der Bezug zu Hollywood hier etwas austauschbar und lässt am Ende Leere zurück.
Tragische Schauspiel-Figuren, da ist auch James Dean nicht weit entfernt, werden sich die Programmverantwortlichen gedacht haben. Mit Life (Berlinale Special Gala) hat sich Anton Corbijn einen ganz persönlichen Stoff ausgesucht. Der niederländische Regisseur machte sich nämlich zunächst als Fotograf von berühmten Musikstars einen Namen, bevor er über Musikvideos (u.a. für Nirvana) und Werbevideos zum Filmregisseur wurde. Dass James Dean in dessen Dean-Film deshalb eher die Nebenrolle spielt und „Life“-Magazin Fotograf Dennis Stock im Vordergrund steht, ist da nur passend. Aussergewöhnlich ist hingegen, dass dieser Dennis Stock von Robert Pattinson verkörpert wird, dem zumindest Teenager-Mädchen nach zu urteilen eine Dean‘sche Aura umgibt, wie man vor der Premiere unter gellendem Gekreische und Blitzlichtgewitter feststellen konnte. James Dean wird von dem eher unbekannten Dane DeHaan (man beachte das Wortspiel) dargestellt. Einerseits wirkt diese Metaebene um Pattinsons reale Person, die hier filmisch verkehrt genutzt wird, anregend. Andererseits störte DeHaans zu jugendliches Aussehen, was der Faszination für James Dean als Popstar mit rebellischem Gesichtsausdruck und stark männlichen Zügen nicht gerecht wurde. Eher erinnert DeHaan – sichtlich bemüht – an einen jungen DiCaprio mit Babyface, weswegen man zu behaupten geneigt ist, dass Pattinson rein optisch doch der bessere Dean gewesen wäre. Filmtechnisch gibt es bei Corbijn wie immer nur Lob zu verteilen: Ausstattung, Kostüme und Kamera sind hervorragend und führen ohne Umschweife direkt in die 50er-Jahre ein. Stock schoss einige der berühmtesten Fotos von Dean und trug damit ausschlagebend zu dessen Status als Popikone bei. Corbijn erzählt die Geschichte hinter diesen Fotos und das macht Dean- aber auch Filmfans teilweise grossen Spass. Der Umstand, dass Dean jedoch eben nicht die Hauptfigur ist, sich dennoch aber alles um ihn dreht, DeHaan diese rebellische Ausstrahlung nicht gekonnt vermittelt, Pattinson aber gerade dies vielleicht geschafft hätte, hinterlässt nichtsdestotrotz den Eindruck von verschenktem Potential.
Bleiben wir bei den grossen Namen der Filmwelt: Kein Geringerer als Peter Greenaway himself hat Sergei Eisenstein, den er selbst als die „ultimative Vaterfigur des modernen Weltkinos“ sieht, seinen neusten Film gewidmet. Dass Greenaway für Eisenstein in Guanajuato (Wettbewerb) keinen Preis gewonnen hat, spricht nicht gerade für die Jury, so hat die britische Regielegende wie schon lange nicht mehr aus dem Vollen geschöpft und ein kreatives Filmfeuerwerk abgeliefert, das gleichzeitig Tabus bricht. Wie einst der russische Filmpionier selbst, der mit Panzerkreuzer Potemkin und Oktober Filmgeschichte geschrieben und die Montage neu definierte hat, spielt Greenaway mit dem Einsatz von spielerischen Stilmitteln, wie auch dem Einspielen von Ausschnitten aus Eisensteins Filmen. Es ist eine Hommage und vielmehr noch ein Coming-Out. Die Handlung dreht sich um Eisensteins Mexiko-Reise in den 1930er- Jahren. Damals schon ein etablierter Filmkünstler, hat er die Gunst des berühmten us-amerikanischen Literaten Upton Sinclair auf seiner Seite, der Eisensteins Aufenthalt in Mexiko finanziert – mit Ausblick auf ein neues Meisterwerk. Der Russe, der unter der Sonne Mexikos, wie ein exotisches Tier wirkt, denkt jedoch nicht an das Filmemachen, sondern entdeckt vielmehr den sexuellen Reiz des gleichen Geschlechts. Sein Aufenthalt wird zur homosexuellen Entdeckungsreise. Allein diese Prämisse wäre wohl Stoff genug, um in Russland einen Skandal auszulösen, wird doch Eisensteins Homosexualität bis heute als Tabu unter den Teppich gekehrt. Dass Greenaway seinen Eisenstein (gespielt vom finnischen Schauspieler Elmer Bäck) ähnlich wie Mozart in Milos Formans Amadeus als lockiges, durchgeknalltes Genie zeigt, das vollends seinen Spass am gleichgeschlechtlichen Sex hat (und das explizit dargestellt), ist hingegen Provokation pur – aus russischer Sicht versteht sich. Ob man den Film nun mag oder nicht, Greenaway hat sich mit über 70 Jahren nochmal eindrucksvoll zurückgemeldet und man darf ihm getrost mehr Einfallsreichtum zuschreiben, als manch jüngerem Kollegen. Im nächsten Jahr folgt dann übrigens Greenaways zweiter Eisenstein-Film The Eisenstein Handshakes – im Fokus dessen Aufenthalt in der Schweiz!
Auch in diesem Jahr war James Franco der präsenteste Stargast in der deutschen Hauptstadt. Man ist es schon fast gewohnt, dass er gleich mit mehreren Filmen und Kunstprojekten im Gepäck zur Berlinale reist. Einer dieser Filme in diesem Jahr war I Am Michael (Panorama) von Justin Kelly, der kurz zuvor schon am Sundance Film Festival gezeigt wurde. Der Film basiert auf der wahren Lebensgeschichte von Michael Glatze, der sich einen Namen als Aktivist für die Rechte Homosexueller und als Mitbegründer von Magazinen für Schwule gemacht hat. Aufmerksamkeit erregte seine Geschichte vor allem dadurch, dass er sich zunehmend der christlichen Religion zugeneigt sah und sich von seiner Vorreiterrolle der Schwulenbewegung abwandte, ja sogar gegenbewegende Aktivitäten anstiess. Franco, der sich in der Vergangenheit wiederholt homosexuellen Themen annahm und um dessen eigene Orientierung zahlreiche Gerüchten kursieren, spielt Glatze sehr unaufgeregt und eindimensional, was aber nicht unpassend wirkt. Glatze wird als sehr begeisterungsfähiger Mensch dargestellt, der jedoch auch dazu neigt – nicht zuletzt wegen seinem Talent mit Worten umzugehen –, anderen seine Sichtweise aufzudrängen. Radikal folgt er seinen zeitlich begrenzten Prinzipien und lässt dabei seine Mitmenschen auch mal auf der Strecke. Das führt zu inneren Kämpfen und Existenzkämpfen, die Franco mal besser, mal schlechter zum Ausdruck bringt.
…und nochmal James Franco…
In Wim Wenders 3D-Drama Every Thing Will Be Fine (Wettbewerb) spielt James Franco eine ähnliche Figur. Nämlich einen mässig erfolgreichen, jungen Schriftsteller, der ein kleines Kind überfährt und damit tödlich verletzt. Nach diesem Schicksalsschlag gerät das Leben des Autors aus den Fugen: ein Selbstmordversuch und eine gescheiterte Beziehung sind die Konsequenzen. Allmählich gewinnt sein Lebenswille jedoch wieder Überhand und seine neuen Romane beflügeln plötzlich seine Karriere, auch in kommerzieller Hinsicht. Während der Unfall offenbar seinen Erfolg eingeleitet hat, hat er das Leben der Mutter des toten Kindes und dessen Bruders zerstört. Nichtsdestotrotz kommt er über die Jahre hinweg immer wieder in Kontakt mit den beiden. Auch in diesem Film beweist Franco, dass die Ausdrucksweise innerer Konflikte nicht gerade zum Aushängeschild seines Mimik-Portfolios gehört. Mit einem Regisseur wie Wenders im Hintergrund kann man darüber aber getrost hinwegsehen. Auch weil Benoît Debies 3D-Kamera dem Film eine tiefe Schattierung verleiht, die Gefühlzustände in ein ganz spezielles Licht rückt, das Empfindsamkeiten effektiv zum Ausdruck bringt. Die Ästhetik ist atemberaubend und verleiht dem Film einen ganz eigenen Touch, in dem auch Gefühle ohne grosse Worte und eindeutige Gesten und Mimiken mitgeteilt werden. Charlotte Gainsbourg als die Mutter des toten Kindes und Rachel McAdams als die Freundin zu Beginn, tragen mit ihrem Charme dazu bei, dass dem Film eine beinahe märchenhafte Atmosphäre anhaftet. Dazu gehört auch der schreckliche Schicksalsschlag zu Beginn, der in jeder Szene wie eine dunkle Wolke präsent ist und mit dem die Figuren im Laufe der Zeit leben lernen müssen.
In Werner Herzogs Queen of the Desert (Wettbewerb) war James Franco schliesslich ein drittes Mal zu sehen. Als Lover und früher Ehemann von Gertrude Bell macht er sich in einem äusserst kitschigen Filmbeginn bemerkbar. Bell wird von Nicole Kidman gespielt, der man die Abenteurerin und völkervereinende Wüstenkönigin durchaus abnehmen würde, aber dazu fehlt in Herzogs Film so einiges. Zunächst sei gesagt, dass Herzog zum ersten Mal einer Frau die Hauptrolle anvertraut. Doch liess er sich von Kidmans Star-Aura offenbar ebenso einlullen, wie die Männerfiguren in seinem Film von der zielstrebigen Bell. Erinnert man sich an den abgemagerten Christian Bale aus Rescue Dawn oder dem dem Wahnsinn nahen Kinski aus Herzogs frühen Filmen, kommt Kidman viel zu gut weg. Weder scheint der Wüstensand an ihrer blitzblanken Fassade zu kratzen, noch hinterlassen die vorbeiziehenden Jahre irgendwelche Furchen in ihrem Gesicht. Ok, die Geschichte dieser tollkühnen Frau, die in der arabischen Wüste noch vor T.E. Lawrence (pathetisch: Robert Pattinson) umherzieht und mit ihrem Charme die orientalische Männerwelt auf den Kopf stellt, gleichzeitig aber auch politisch zuvor nie erreichte Übereinkommen trifft, ist interessant. Herzog verzettelt sich jedoch anfangs im Kitsch und verpasst es später die Story dicht und spannend zu halten. Spätestens wenn sein langjähriger Kameramann Peter Zeitlinger schliesslich atemberaubende Felswände und Wüstenschluchten gekonnt einfängt, wünscht man sich mit Herzog wieder zurück in die Chauvet-Höhle oder die Antarktis zu reisen und dabei Nicole Kidman auf ihrem Dromedar sitzen zu lassen.
Vom Titel her ähnlich, vom Inhalt ganz anders war Alex Ross Perrys Queen of Earth (Forum). Nachdem Perry im letzten Jahr für seinen Film Listen up Philipp viel Lob einheimsen konnte, waren die Erwartungen an den Nachfolger gross. Dem hat Perry geschickt auf seine exzentrische Art – die er durchaus beim anschliessenden Q+A auch an den Tag legte – entgegengewirkt. Innert kürzester Zeit und mit kaum vorhandenem Budget, hat er seinen neusten Film kurzerhand im Seehaus eines Verwandten abgedreht. Die Stars Elisabeth Moss, Katherine Waterston (derzeit auch aufgrund ihrer Rolle in Inherent Vice in aller Munde) und Patrick Fugit konnte er während deren grossen Drehpausen und dank der kurzen Drehzeit für sein Projekt gewinnen. Im Zentrum steht die Freundschaft zweier Freundinnen – Moss und Waterston. Die Handlung ist auf zwei Sommer verteilt, in denen sich die beiden Freundinnen im Seehaus treffen. Jede hat einen Mann dabei, mit dem die andere nichts anfangen kann. Emotionen kochen hoch und ein Zickenkrieg entsteht, bei dem Moss durch ihre sich zuerst aufstauenden und dann zum überlaufen kommenden Gefühle begeistert, während Waterston durch ihre dagegen wirkende Nonchalance fasziniert. Die Dialoge sind messerscharf und die Montage verschachtelt, so droht man manchmal den Überblick für das Zeitliche zu verlieren – etwa was die beiden Sommer angeht, als auch die vergangene Zeit zwischen den einzelnen Szenen. Dadurch sorgt Perry für eine durchwegs unbequeme Grundspannung, die sich jederzeit zu entladen droht. Mit der Musik und der dichten Atmosphäre werden Erinnerungen an Polanskis frühe Psychothriller wach. Der Handlungsort und die psychotische Moss lassen aber auch Erinnerungen an Slasherfilme aufkommen. Dieses Spiel mit Genreelementen, ohne jedoch in Muster zu verfallen, ja sogar ohne sich wirklich im Genre zu bewegen, gelingt Perry vortrefflich und macht ihn zu einem talentierten Könner der US-Independent-Szene.
Wie die Zeit vergeht…
Sebastian Schippers Victoria (Wettbewerb) zeigte sich als drehtechnische Mammutübung. Der 140 Minuten lange Film ist als „One take“ gedreht worden – das heisst, ganz ohne Schnitt folgt die Kamera den Figuren in Realzeit. Eine akribische Planung sämtlicher Abläufe und drei Anlaufversuche machten es schliesslich möglich. Abgesehen von vereinzelten Längen und etwas wackligen Bildern bei den Actionszenen ist das Kunststück vollends geglückt. Mit einnehmendem Stroboskop-Licht führt der Film den Zuschauer,atmosphärisch in einen Berliner Nachtclub. Eine weibliche Silhouette zeichnet sich darin ab. Victoria. Sie ist alleine und man folgt ihr an die Bar, wo sie dem Barkeeper schöne Augen macht, aber abblitzt. Dann geht es Richtung Ausgang, wo sie zum ersten Mal Sonne begegnet – eine schicksalshafte Begegnung wie sich in den nächsten zwei Stunden herausstellen wird. Victoria ist eine junge Spanierin und arbeitet erst seit Kurzem in einem Stadtcafe gleich um die Ecke. Als sie Sonne und dessen Freunde Boxer, Blinker und Fuss in der Disco kennenlernt, ist sie bereits auf dem Nachhauseweg. Doch angetrunken und nicht abgeneigt neue Bekanntschaften zu machen, lässt sie sich auf die durchaus charmanten, wenn auch ziemlich besoffenen Jungs ein. Gemeinsam klauen sie Bier aus einem Kiosk und kiffen auf dem Dach eines Wohnblocks. Victoria blüht auf und scheint ihre Einsamkeit in der Fremde für kurze Zeit zu vergessen. Die jungen Männer, insbesondere Sonne wachsen ihr schnell ans Herz, so sehr, dass sie sich auf eine Dummheit einlässt, die in einem Banküberfall endet. Es ist vor allem Laia Costas Schauspiel, das den Film nebst der technischen Herausforderung so bemerkenswert macht. Insgesamt kreiert der Film durch seine Machart eine ungeheure Authentizität und Costa schafft es die Isoliertheit und das Verlangen nach Zugehörigkeit in wenigen Augenblicken auf den Punkt zu bringen. So werden ihre Handlungen stets nachvollziehbar und das Chaos einer Berliner Nacht greifbar. Auch die männlichen Darsteller schaffen es diesen Realismus zu erzeugen – Frederick Lau macht sich dabei einmal mehr als grosses Nachwuchstalent bemerkbar. Die Nacht gehört jedoch Victoria. Sie ist die tragische Heldin.
Nach seinem letzten Film Weekend und seiner Beteiligung an der HBO-Serie Looking, stand der neue Film 45 Years (Wettbewerb) des britischen Regisseurs Andrew Haigh eigentlich schon vor Festivalbeginn bei Kritikern hoch im Kurz. Dazu beigetragen hat natürlich auch die hochkarätige Besetzung mit Charlotte Rampling und Tom Courtenay in den Hauptrollen. Dass der Film dann schlussendlich wirklich sehr gut war, dürfte keine so grosse Überraschung gewesen sein. Das perfekte Gespür, das Haigh als junger, homosexueller Regisseur für die Situation dieses gealterten Ehepaars hat, ist aber beeindruckend. Kate und Geoff stehen kurz vor ihrem 45. Hochzeitstag – den 40. haben sie verpasst zu feiern, darum sollen jetzt die Korken so richtig knallen. Doch als der Tag sich nähert und das Lampenfieber ansteigt, bekommt Geoff unerwartete Post. Noch bevor er Kate kennenlernte, war er in jungen Jahren mit seiner damaligen Freundin in der Schweiz wandern. Durch eine Unaufmerksamkeit ist die junge Frau in einen Gletscher gestürzt und nie mehr aufgetaucht. Bis jetzt. Ihre Leiche wurde endlich gefunden und Geoff als ihr nächster Angehöriger darüber informiert. Diese Neuigkeit sorgt beim eigentlich so gut eingespielten Ehepaar für grossen Wirbel. Hätte Geoff seine damalige Freundin geheiratet, wenn sie nicht gestorben wäre? Hätte er Kate dann überhaupt kennengelernt? Fragen und Zweifel kommen vor allem Kate, während Geoff in Gedanken versunken die Vergangenheit nochmal durchspielt. Und der Hochzeitstag kommt immer näher… Dass Rampling und Courtenay als beste Schauspieler des Festivals ausgezeichnet wurden, war eine logische Konsequenz. Zu viele wunderbare und äusserst gefühlvolle Momente schenkt Haigh seinen beiden Protagonisten.
Die 65. Internationalen Filmfestspiele Berlin fanden vom 05. – 15.02.2015 statt.
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