Zum zweiten Mal stand die 68. Ausgabe des renommierten Filmfesitvals von Locarno unter der Leitung des gebürtigen Italieners Carlo Chatrian. Es war sein bislang stärkster Jahrgang. Der ausgewogene und clevere Wettbewerb sorgte für grosses Kino und selbst das Wetter hat 2015 gestimmt. (dap)
Festival-Direktor Carlo Chatrian – der sympathische Lockenkopf, den der Piazza-Besucher von seinen mehrsprachigen Abend-Auftritten auf der grossen Bühne her kennt – hat auch in diesem Jahr als Vorbereitung über tausend Filme aus aller Welt gesichtet. In seiner dritten Amtsperiode hat der Italiener nochmal erheblich Schwung aufgenommen, die Erfahrungen aus den Vorjahren berücksichtigt und den Status des Festivals weiter gefestigt. Die Richtung ist klar: Man etabliert sich als das kleine Festival unter den Grossen, das bewusst Wagnisse eingeht, ja sogar fördert und das Publikum das Unerwartbare erwarten lässt. Diese Richtung ist ungemein wichtig für Locarno und macht das Festival zunehmend unverwechselbar. Schaut man zu den grossen Brüdern nach Berlin, Cannes oder Venedig, scheinen dort die teilnehmenden Filme nicht selten austauschbar. Böse Zungen behaupten gar, dass in Berlin jene Filme gespielt werden, die sich keine Chancen für Cannes ausmachen, und in Venedig jene, die für Cannes nicht rechtzeitig fertig wurden. Es ist kein Geheimnis, dass Sympathien ebenso eine Rolle spielen – von politischen und finanziellen Aspekten (Stichwort Fördergelder) ganz zu schweigen. Doch was sagt dies generell über die Filme von Cannes, Berlin und Venedig aus? Dass sie grundsätzlich auf jedem dieser drei Festivals laufen könnten! Und in dieser Hinsicht hat sich Locarno in eine höchst veritable Position manövriert: man zeigt hier Filme, die unverkennbar zum Festival passen, ohne dem hohen Mass an Vielfalt des Internationalen Wettbewerbs ungerecht zu werden. Im Gegenteil: Locarno entwickelt sich zunehmend zur Hochburg des experimentellen World Cinemas, das gesellschaftliche Themen aufgreift und zu innovativen Erzählformen neigt.
Wer nach Locarno kommt, darf also besonderes erwarten. Natürlich gibt es auf der Piazza Grande auch massentaugliche Filme wie Trainwreck oder Southpaw zu sehen, natürlich gibt es tolle Retrospektiven wie in diesem Jahr zu Sam Peckinpah und natürlich gibt es Filme ausserhalb der Wettbewerbe zu Ehren von Gästen wie Edward Norton oder Michael Cimino. Doch wer nach Locarno kommt, trifft wohl wie bei keinem anderen Festival dieser Grössenordnung auf experimentierfreudiges Weltkino – mit gesellschaftlicher Ausrichtung zum Verständnis der komplexen Gegenwart, wie es Chatrian im Vorfeld versprach. Im Concorso internazionale, dem Hauptwettbewerb des Festivals, der in diesem Jahr unter der Begutachtung des Jury-Präsidenten Udo Kier stand, wurde dieses Versprechen eingelöst. Wir stellen ein paar Werke daraus vor.
Lässt man sich auf das Festival ein und lässt sich treiben, stellt man rasch fest, dass diese Art von Kino nicht unterhaltsam sein muss, ja teilweise vielleicht sogar gar nicht sein darf. Begriffe wie zäh, trist und anstrengend sind ebenso treffend wie die Begriffe anregend, innovativ und herausfordernd. Rick Alversons Film Entertainment nahm in dieser Hinsicht eine fast schon bezeichnende Position ein. Gregg Turkington spielt den traurigen Clown, einen abgehalfterten Stand-up-Comedian, der durch die Wüste des amerikanischen Westens zieht. In Trucker-Spelunken und Gefängnissen findet er sein Publikum, das seinen Witzen nur in seltenen Fällen applaudiert oder sie gar versteht. Häufiger kommt es vor, dass die Leute buhen, ihn beschimpfen und Dinge nach ihm werfen. Seine vulgären Witze, die sehr tief unterhalb der Gürtellinie einzuordnen sind, startet er meist mit einem langgezogenen „Whhyyyyyy!?“. In dieser Manier erinnert er mit seiner quakenden Stimme; dem schmalzigen, lichten Haar, mit dem er seine Glatze überdeckt und seiner buckligen Haltung an Danny DeVitos Interpretation des Pinguins aus Batman Returns. Es fällt schwer Sympathien für diese Figur aufzubringen, es ist schwer ihn zu mögen und doch fasziniert seine Lustlosigkeit und Bösartigkeit, mit der er seine Witze dem Publikum um die Ohren schlägt. Die Stärke dieses Films liegt in der schon fast traumwandlerischen Atmosphäre, die Alverson mit den surrealen Bildern aufbaut – etwa in der Form eines Flugzeugfriedhofs inmitten der Wüste. Realität und Traum verschmelzen. So abrupt wie seine Bühnenshows vom wütenden Publikum beendet werden, scheint er jeden Moment aus diesem Alptraum aufzuwachen. Doch das geschieht nicht.
Der Schweizer Beitrag Heimatland hat sich bei der deutschsprachigen Kritik schnell zum Favoriten entwickelt. Eine Schweizer Produktion gemacht von 10 Regisseuren und von einem Cutter aufwendig montiert, ist durchaus nicht alltäglich. Wenn dann noch ein Thema wie die aktuelle Flüchtlingswelle auf interessante Weise auf den Kopf gestellt wird, ist das für die Schweizer Kinolandschaft schon bemerkenswert: Eine dunkle Gewitterwolke zieht sich über der Eidgenossenschaft zusammen und scheint an der EU-Grenze plötzlich zu stoppen. Die Schweizer Bevölkerung will fliehen, doch der grosse Andrang wird den Nachbarn zu viel, so dass nur noch den EU-Bürgern die Einreise gewährt wird. Die einzelnen Schicksale dieses Episodenfilms werden glaubwürdig und gesellschaftlich repräsentativ aufgezeigt und erzählt. Nicht alle Geschichten erhalten jedoch die gleiche Aufmerksamkeit und werden unterschiedlich gewichtet. Z.B. wirkt die Episode eines Fussball-Fans, der im Stadion der Berner Young Boys unbedingt eine Fackel zünden möchte, austauschbar. Wahrscheinlich hatte man hier auch ein jugendliches Publikum im Hinterkopf, das man bereits mit dem Trailer abzuholen versuchte. Dass Heimatland schlussendlich keinen Preis erhielt, ist nachträglich in Ordnung, bleibt der Film auch nicht so nachhaltig im Gedächtnis wie andere Werke, die man in diesem Jahr gesehen hat. Dennoch ist der Film eine erfreuliche Erscheinung für das Schweizer Filmschaffen.
Der südkoreanische Regisseur Hong Sangsoo erhielt für Ji-geum-eun-mat-go-geu-ddae-neun-teul-li-da (Right Now, Wrong Then) den Goldenen Leoparden. Diese Entscheidung gefällt, denn dem Film gelingt es trotz einfachen Mitteln dem experimentellen, innovativen Gestus des Festivals gerecht zu werden und dennoch schnell den Zuschauern durch seine locker-amüsante Art für sich zu gewinnen. Dies liegt auch an den beiden tollen Hauptdarstellern Min-hee Kim und Jung Yae-Young. Letzterer gewann schliesslich auch den männlichen Darstellerpreis. Er spielt einen bekannten Filmregisseur, der in einem Tempel eine junge Frau anspricht und seine Berühmtheit schnell als Ass ausspielt. Die Frau geht darauf ein und die beiden gehen schon kurz darauf essen, bevor sie ihn mit zu ihren Bekannten (Fans des Regisseurs) mitnimmt und er sie schliesslich nach Hause begleiten darf. Dann stoppt der Film, in der Mitte der Laufzeit. Die Geschichte wird noch einmal erzählt, mit fast den gleichen Abläufen und doch spielen sich die Szenen und Dialoge anders ab. Sangsoo will uns damit sagen, dass jeder Moment im Leben einzigartig ist. Auch wenn wir einen Schlüsselmoment wiedererleben würden, wäre er wohl anders, denn die kleinste veränderte Nuance könnte die Situation beeinflussen. Man wird erinnert an Filme wie Groundhog Day oder The Butterfly Effect. Die reduzierte und effektlose Machart gibt dem Film aber eine eigene Note und verkehrt auch irgendwie die Aussage, dass jeder Moment einzigartig ist. Denn ist es nicht der Film an sich – die Umstände der Rezeption mal weggedacht –, der auch beim mehrmaligen ansehen immer gleich bleibt (wenn auch nicht gleich wirkt)? Sangsoos Film ist da anders, zweifach.
No Home Movie von Chantal Akerman macht wütend. Eigentlich hätte sie auch das „Home“ im Titel weglassen können. Es ist ein Anti-Film, den man sich wohl nur erlauben kann (sofern man eine Öffentlichkeit wünscht), wenn man auf eine langjährige Filmkarriere zurückblicken kann und man die Erwartungen des Publikums bewusst zerschlagen möchte. In einer ersten Einstellung sieht man einen Baum, dessen Äste und Blätter der heftige Wind am liebsten mitreissen würde. Man sieht diese Einstellung minutenlang. Später sieht man Akermans Mutter, von der der Film eigentlich handelt. Eine alte, pflegebedürftige Frau. Sie hat Auschwitz überlebt. Akerman selbst hört man mehr, als dass man sie sieht. Sie sitzt mit ihrer Mutter am Küchentisch oder kommuniziert mit ihr über Skype. Es sind wenig aufregende Bilder und kaum bedeutende Dialoge. Man vermutet in diesen Bildern Wut. Wut über die Ungerechtigkeit des Lebens, über das Altwerden, über den Verlust ihrer Mutter. Ein Film ist das Ganze jedoch nicht geworden: Ein Zusammenschnitt von Aufnahmen, vielleicht. Auch als Zuschauer ist man wütend auf die einst grosse Regisseurin des feministischen Kinos. Vielleicht war genau das ihre Intention.
James White war neben Entertainment der zweite US-amerikanische Film im Internationalem Wettbewerb, der anfangs Jahr bereits in Sundance gezeigt wurde. Regisseur Josh Mond gelingt ein intensives Indie-Drama mit einem hervorragenden Hauptdarsteller und ebenso guten Nebenfiguren. Die titelgebende Figur James White ist ein junger New Yorker, dessen Vater erst gerade verstorben ist. Auch um seine Mutter, die schon lange von ihrem Mann getrennt lebte, steht es nicht gut. Sie hat Krebs und ist auf die Hilfe ihres Sohnes angewiesen. Der Endzwanziger kümmert sich so gut es geht um seine Mutter, doch der junge Mann kriegt sein Leben selbst kaum auf die Reihe: er ist arbeitslos, trinkt zu viel und hat auch seine Gewaltausbrüche nicht unter Kontrolle. Christopher Abbott fiel zuvor in der Serie Girls als gutaussehender aber ebenso naiver Freund eines dieser Girls auf. In diesem Film dreht er sich nun um 180 Grad und überzeugt mit einer ausdrucksstarken, emotionalen Performance. Die dichte Inszenierung untermauert dies: die Kamera nimmt kaum Abstand vom Hauptdarsteller, oft klebt sie ihm quasi direkt am Gesicht. Dies erweckt den Eindruck, die Umwelt und Realität drohe James White nahezu zu erdrücken. Gleichzeitig wird man auch als Zuschauer extrem involviert, ist nahe dabei, was das Gezeigte zu einer sehr intensiven Erfahrung macht. Erwähnenswert ist auch Cynthia Nixon (Sex and the City) als krebserkranke Mutter. Eine Oscar-Nominierung als beste Nebendarstellerin scheint hier wahrscheinlich zu sein.
Alex van Warmerdam konnte mit Borgman 2013 einen Überraschungshit in Cannes landen und auf weiteren Festivals zahlreiche Preise einheimsen. Darin wurde eine wohlhabende Familie von einem Unbekannten tyrannisiert, der sich zunächst ganz unscheinbar aber doch äusserst penetrant bei der Familie einnistet. In seinem neuen Werk Schneider vs. Bax geht es klassischer zu und her. Es wird eine Auftragskiller-Story erzählt, die der niederländische Regisseur mit seinem dunklen Humor anreichert und damit auch für ein paar irrwitzige Wendungen sorgt. Schneider ist eigentlich ein normaler Familienvater – so normal, wie man eben als Auftragsmörder nur sein kann. Das heisst, wenn er zur Arbeit fährt, gehören Perücke und falscher Schnauzbart halt mit dazu. Als sein Arbeitgeber ihn bittet, einen Kollegen der eigenen Zunft names Bax (von van Warmerdam selbst gespielt) umzulegen, willigt Schneider zwar ein, doch beim Versuch der Umsetzung geht gehörig viel schief. Der Film besticht durch seine Unvorhersehbarkeit und der Art, wie er mit den Elementen des Genres spielt. Auch der sonderbare Hauptdrehort – Bax wohnt quasi in einem Pfahlhaus mitten im Schilf – macht den Film richtig unterhaltsam mit spezieller Note. Als Schneider schliesslich bemerkt, dass er selber auf der Abschussliste steht, geht es erst so richtig drunter und drüber.
Tikkun von Avishai Sivan erhielt den Spezialpreis der Jury. Im mittleren Teil seiner Trilogie erzählt der israelische Regisseur erneut von einem ultra-orthodoxen Religionsschüler in Jerusalem. Haim-Aaron zählt zu den talentiertesten Schülern, doch sein extrem ausgeprägter Lerndrang zollt bald schon körperlichen Tribut. Bei einem Schwächeanfall in der Badewanne verletzt er sich beinahe tödlich. Als die Sanitäter ihn schon für Tod erklären wollen, interveniert der Vater und holt seinen Sohn zurück ins Leben. Diese Nahtoderfahrung verändert den jungen Mann und bringt ihn zunehmend vom gläubigen Weg ab. Verirrt rennt er nachts durch die Gegend, fährt per Anhalter mit Fremden mit und findet zusehends Interesse am anderen Geschlecht (diese Neugier kulminiert in der vielleicht schockierendsten Szene des Festivals). Er distanziert sich von seiner Familie und umgekehrt. Sein Vater macht sich indessen Vorwürfe, Gottes Plan mit seiner Intervention womöglich durchkreuzt zu haben. Die symbolhaften Schwarz-Weiss-Bilder entwickeln einen faszinierenden Sog, in den man als Zuschauer, schon früh reingezogen wird. Es ist eine unbekannte Welt, ein unvertrauter Alltag, in den Sivan hier einführt. Doch das Unbekannte hat seinen Reiz und die Inszenierung ist ungeheuerlich dicht. Es gibt Traumszenen mit Krokodilen die verblüffen und wunderschön anzusehen sind. So wie der ganze Film. Dem Kameramann Shai Goldmann wurde hierfür mit einer besonderen Erwähnung gedankt.
Der Titel des japanischen Beitrags Happy Hour gibt Rätsel auf. Mit über 5 Stunden Laufzeit lieferte Regisseur Ryûsuke Hamaguchi den längsten Film des Festivals ab. So wurde diskutiert, warum im Titel die Stunden nicht in Mehrzahl stehen oder ob der Titel sarkastisch zu verstehen sei. Denkbar ist, dass man wie bei der Happy Hour in einer Bar zwei Filme für einen erhält. Schliesslich spielt dies jedoch keine Rolle, besonders „happy“ geht es in dem Film ohnehin nicht zu und her. Höchstens zu Beginn scheinen die vier Freundinnen, um die es hier im Wesentlichen geht, alle noch glücklich zu sein. Man begleitet sie zunächst auf einem ihrer Frauenausflüge, die sie immer wieder veranstalten, und wobei sie das Zusammensein untereinander ebenso zelebrieren wie die Abwesenheit ihrer Männer. Als eine von ihnen später den ersten Schritt wagt und sich von ihrem Ehemann trennt, wird die Freundschaft der Frauen auf eine Probe gestellt und die anderen fangen an, ebenso ihr Leben und ihre Männer zu hinterfragen. Angesichts der Länge des Films ist es schon bewundernswert, dass es Hamaguchi gelingt, eine Geschichte zu erzählen, die zu keiner Minute langweilig wird oder an Interesse einbüsst. Dies gelingt ihm, indem er das Tempo des Films optimal reguliert und manche Szenen, wie etwa eine Buchvernissage praktisch ganz in Echtzeit zeigt – das ist fiktionaler Realismus in seiner reinsten Form. Natürlich wird der Film auch von seinen Darstellerinnen (auch die Männer sind mehr als nur Nebenfiguren) getragen, die glaubwürdige Frauenbilder verkörpern und sich zu Recht den Darstellerinnenpreis teilten.
Die 69. Ausgabe findet nächstes Jahr vom 3. – 13.08.2016 in Locarno statt.
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