(Autor: dap, Berlinale 2016)
Der Bär hat sich wieder in seine Höhle verkrochen. Vom 11. bis 21. Februar versetzte er die deutsche Hauptstadt in den Ausnahmezustand. Auf der Plakatserie des Festivals sah man den Bären ganz städtisch – wie er die Metropole mit seinen grossen Tatzen erkundet. Sein Zuhause: der Berlinale Palast. Dort, und auch in den anderen Kinos, insbesondere rund um den Potsdamer Platz, fühlt man sich auch als Berlinale-Besucher während dieser kühlen Tage im Februar ganz heimisch. Es ist der Berlinale Palast, der tagtäglich morgens früh die akkreditierten Besucher wie ein Magnet anzieht, sie danach wieder ausspuckt, um sie pünktlich zur Mittagszeit für die Pressevorführung des zweiten Wettbewerbsfilms wieder anzulocken. Danach wird der Palast auf Vordermann gebracht und für die Gala-Premieren, den roten Teppich, die Stars und auch das Publikum am späteren Nachmittag und Abend vorbereitet. Ein jährliches Spektakel!
Das politischste A-Festival
Nachdem im letzten Jahr Jafar Panahi mit Taxi den Hauptpreis gewann, erhielt in diesem Jahr Gianfranco Rosis Fuocoammare den Goldenen Bären. Somit gewann erneut ein Film, der ein politisches Thema – die Flüchtlingskrise – behandelt und dafür eine semi-dokumentarische Form wählt. Dieser Gewinner festigt den Ruf der Berlinale ein politisches Festival zu sein, wodurch sie sich von den anderen A-Festivals abgrenzt – die selten oder gar keine politische Stellung beziehen. Festival-Direktor Dieter Kosslick startete zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals einen Spendenaufruf in Anbetracht der Flüchtlingskrise. Auch lud er während der Festtage Flüchtlinge ins Kino ein.
Als Reaktion auf den „#OscarsSoWhite“-Skandal holte Kosslick kurzerhand den Initiator dieses Boykotts nach Berlin: Spike Lee durfte seinen neuen Film Chi-Raq ausser Konkurrenz im Wettbewerb zeigen. Lee hatte sich zuvor sehr kritisch über die wiederholte Auslassung schwarzer Schauspieler bei den Oscar®-Nominierungen geäussert, worauf viele schwarze Berühmtheiten ebenfalls ihren Verzicht auf den Gala-Anlass verkündeten.
Und auch bei der Gender-Frage, die ebenfalls bei den Oscars® und den anderen Festivals immer wieder zur Sprache kommt, bewies Kosslick Kalkül. Nicht nur war mit Meryl Streep eine Frau Präsidentin der Jury, auch waren die Damen der Jury in Überzahl. Dass am Ende auch eine Frau, trotz männlicher Dominanz im Wettbewerb, gewann, war da nur konsequent: Mia Hansen-Løve erhielt den Silbernen Bären als beste Regisseurin.
In Berlin sind eben Dinge möglich, die sonst unmöglich erscheinen oder zumindest Seltenheitswert besitzen. Aber: Will man ein Filmfestival das politisch Stellung bezieht und sich einmischt überhaupt? Sollte das Festival nicht allein als Plattform dienen, wo sich Kunst entfalten kann und ihre politische Relevanz vom Betrachter selbst zu erschliessen ist? Solche Fragen wird man sich wohl in den nächsten Jahren noch öfters stellen. Diskurse und Kontroversen sorgen für Gesprächsstoff und Auseinandersetzungen. Und was kann sich ein Festival mehr wünschen, als dass man sich mit ihm und seinen Inhalten auseinandersetzt? In diesem Jahr hat man jedenfalls vieles richtig gemacht. Schlussendlich sollten die Filme jedoch die Antworten liefern.
Beim diesjährigen Gewinner Fuocoammare war dies auch der Fall. Ein wichtiges politisches Thema eingebettet in eine filmische Form, die überzeugte. Nichtsdestotrotz hörte man böse Zungen sagen, dass ein Film mit diesem Thema, angesichts der Aktualität, auch nicht verlieren konnte. Andererseits ist die Auszeichnung keinesfalls unverdient. Auf jeden Fall passt er bestens zu einem Festival, das mehr als ein Festival sein will. Die Berlinale ist politischer, chaotischer, grösser, bunter und irgendwie einfach anders als andere Festivals. Und das ist gut so.
Der Gewinner und zwei starke Franzosen
Die Flüchtlinge in Gianfranco Rosis Gewinner-Film Fuocoammare kommen übers Meer. Ihr Ziel ist Lampedusa – eine kleine italienische Insel, näher gelegen am afrikanischen Festland als an Italien. Und dennoch ist es für die Reisenden voller Hoffnung stets eine Odyssee ins Ungewisse, die viele von Ihnen mit dem Leben bezahlen. Auf rostigen, uralten Schiffen, die mit Menschen völlig überladen sind, stechen sie in See, um irgendwie auf dem anderen Kontinenten anzukommen. Von der Küstenwache in Empfang genommen, werden die völlig erschöpften Menschen notversorgt, kategorisiert und in Camps befördert. Ihre Zukunft bleibt ungewiss. Neben diesem realen Horror, der sich vorwiegend auf dem Meer abspielt, stellt Rosi ein paar Unikate der Insulaner vor. Darunter ein gutherziger Arzt, der sich um die armen Geschöpfe vom Meer kümmert, ein lokaler DJ und einen abenteuerlustigen Jungen, der sich als kleiner Held des Films entpuppt. Mit Samuele – so der Name des Jungen – entdeckt man als Zuschauer gemeinsam die Insel und muss über seine tollkühne Art mehr als nur einmal schmunzeln. Rosi zeigt in seinem Film zwei unterschiedliche Welten und bringt diese nie wirklich zusammen. Vielmehr baut er Botschaften in seinen Film ein, z.B. in Form von Metaphern. So hat Samuele ein „faules Auge“, auf dem er fast nichts sieht. Sein Arzt verschreibt ihm eine Brille und klebt das gute Auge des Jungen zu, um so das schwache Auge zu aktivieren. Den Blick schärfen, eine neue Perspektive einnehmen, genau hinsehen – eine Aufforderung an Europa, die Politik und jeden einzelnen.
Zwei starke Beiträge kamen aus Frankreich. Auffallend waren die beiden Filme vor allem in ihrer Gegensätzlichkeit. Der Film L’Avenir der jungen Mia Hansen-Løve erinnerte an grosse französische Auteurs wie vor allem Eric Rohmer und Claude Chabrol. Ausserdem verkörpert ihre ikonenhafte Hauptdarstellerin Isabelle Huppert das Cinéma français wie es kaum noch eine andere Schauspielerin tut. André Téchiné hingegen ist seiner Zeichen selbst ein Altmeister des französischen Autorenkinos, stellte jedoch mit seinem neuen Film Quand on a 17 ans den vielleicht frischesten Film des Wettbewerbs vor – nicht zuletzt dank seiner zwei jungen Hauptdarsteller. Auch wenn die meisten Entscheidungen der Jury verständlich waren, war es die grosse Enttäuschung, dass Téchinés Film leer ausging. Hansen-Løve hingegen wurde für die beste Regie prämiert.
Ihr Film handelt von einer Frau, die glaubt, die Midlife Crisis gut überstanden zu haben. Als ihr Mann ihr eine laufende Affäre beichtet, wirkt sie kaum geschockt – zumindest nicht sofort. Das hat zwei Gründe: zum einen steht sie als Wissenschaftsautorin und Lehrerin mit beiden Beinen im Leben und kümmert sich um ihre kranke Mutter, was ihr kaum noch Zeit für anderes lässt. Zum anderen ist sie sich wohl einfach noch nicht dem Ausmass dieser Nachricht bewusst. Huppert spielt die Figur gewohnt unaufgeregt souverän. Doch auch wenn der Film L’Avenir – zu Deutsch: Die Zukunft – heisst, fühlt man sich an vergangene Tage erinnert. In schönen Farben zeigt Hansen-Løve ein sommerliches Paris, wo einst Ende der 60er-Jahre revolutionäre Zeiten herrschten. Zeiten, die aber längst vorbei sind, auch wenn ein ehemaliger Schüler auf intellektuellen Revoluzzer macht. L’Avenir ist ein schöner Film über eine Frau, die sich neu erfinden muss. Statt jedoch etwas über die Zukunft zu erzählen, zeigt er eher wohin verpasste Chance der Vergangenheit führen können.
Ganz anders ist das bei Téchiné. Er ist mit Quand on a 17 ans am Puls der Zeit. Mit viel Körperlichkeit und Bewegung erzählt er von einer Annäherung zweier junger Männer, deren Zuneigung und Ähnlichkeit sie zunächst abstösst. Damien kommt aus einer liebevollen Ehe – seine Mutter ist Ärztin und sein Vater Berufssoldat. Thomas hingegen ist adoptiert, liebt seine Eltern aber deswegen nicht weniger. Er lebt mit ihnen gemeinsam auf einem abgelegenen Bauernhof, weswegen sein Schulweg jeweils einer Bergwanderung gleichkommt. Damien und Thomas gehen in die gleiche Klasse und geraten wiederholt aneinander, so dass auch mal die Fäuste fliegen. Wie die Umstände so spielen, wohnen die beiden plötzlich unter einem Dach, was zu einer Anstauung von Gefühlen und Testosteron führt. In einer Schlüsselszene führt Téchiné schliesslich eine Entladung herbei, was den beiden jungen Männern die Möglichkeit bietet, sich glaubhaft ihren Gefühlen zu ergeben. Corentin Fila und der Schweizer Kacey Mottet Klein (Sister) erwiesen sich als klare schauspielerische Versprechungen für die Zukunft.
In Berlin gehört Geschichte einfach dazu
Mit einer Geschichtsstunde à la Coen wurde das Festival eröffnet. George Clooney lief über den roten Teppich und die Coen-Brüder stellten ihren neuen Film Hail, Caesar! vor, der in Berlin seine Europapremiere feierte. Der Film ist eine gelungene Hommage an das Kino der 50er-Jahre, mit Einflüssen des kalten Krieges und im Zeichen der Kulturindustrie. Auch wenn für Cineasten teils höchst unterhaltsam, dürfte der fragmentarische Film dem Normalzuschauer lückenhaft vorkommen, die er wohl ohne filmhistorisches Hintergrundwissen nicht immer selbständig zu füllen vermag.
Während die Coens die Historie ihrer eigenen Branche aufarbeiteten, verfilmte Theaterregisseur Michael Grandage das Leben von Maxwell Perkins, der als Lektor die amerikanische Literatur anfangs des 20. Jahrhunderts entscheidend mitprägte. Er unterstütze berühmte Schriftsteller wie Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald und Thomas Wolfe dabei, ihren meisterlichen Werken den nötigen Schliff zu verleihen. Das starbesetzte „Biopic-Drama“ mit Colin Firth als Perkins und Jude Law als Wolfe in den Hauptrollen wirkt in allen Belangen souverän. Das Problem des Films ist jedoch, dass er die Magie der eigentlichen Hauptdarsteller – nämlich die Bücher selbst – nicht zeigen kann. So bleibt Perkins’ geniales Gespür für herausragende Literatur und seine geniale Arbeit visuell reduziert auf das Durchstreichen von überlangen Passagen und der Verwendung des Rotstifts. Sein Talent und Einfluss bleibt deswegen nur zu erahnen, weswegen der Film zwar enorm Lust auf die Bücher bereitet, jedoch auch hinnehmen muss, dass man ihm diese jederzeit vorziehen würde.
Als Regisseur ist der Schweizer Vincent Perez bisher kaum wahrgenommen worden. Eher als Schauspieler – vor allem neben Isabelle Adjani in La reine margot. Nun durfte er bei der internationalen Produktion Alone in Berlin Regie führen. Nach einer Buchvorlage von Hans Fallada spielen Brendan Gleeson und Emma Thompson Otto und Anna Quangel, die nach dem Verlust ihres Sohnes an der Front ihren persönlichen Widerstand gegen das Nazi-Regime leisten. Überall in Berlin im Jahre 1940 hinterlegen sie kleine Zettel mit Botschaften, die zum Sturz von Hitler auffordern. Selbst Daniel Brühl als Kommissar kommt ihrem systematischen Vorgehen so schnell nicht auf die Schliche. Durchaus schön ausgestattet, leidet der Film aber vor allem an einer unzulänglichen Dramaturgie. Es kommt kaum Spannung auf. Dass Gleeson und Thompson kein Wort Deutsch sprechen, wirkt sich auch nicht gerade positiv auf die Authentizität des Films aus.
15 Jahre nach seinem Oscar®-prämierten Meisterwerk No Man’s Land beschäftigt sich Danis Tanovic immer noch mit der Geschichte seiner Heimat. Mort à Sarajevo ist ein Film, der imponiert; den man aber auch ein bisschen setzen lassen muss. Tanovic macht darin das geschichtsträchtige Hotel Europa in Sarajevo im Jahr 2014 zum Schauplatz seiner Handlung. Ein bedeutsames Ereignis steht bevor: Das Attentat von Sarajevo, das 1914 den ersten Weltkrieg auslöste, jährt sich zum 100. Mal. Tanovic gelingt ein höchst verschachtelter Episodenfilm, der ausschliesslich im Hotel spielt und von der Küchenhilfe bis zum Manager, von einem Reporter-Team bis zum französischen Stargast anlässlich einer EU-Veranstaltung einer ganzen Palette von Figuren mit grosser Dynamik folgt. Nebst den unterschiedlichen Einzelschicksalen stellt Tanovic Zusammenhänge von damals und heute her und erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven von der komplizierten Situation und Historie seines Landes.
Mehr Wettbewerb: breite Themen und verpasste Chancen
Mit Take Shelter und Mud hat Jeff Nichols bewiesen, dass er derzeit zu den interessantesten Autorenfilmern des amerikanischen Kinos zählt. Mysteriös, unberechenbar und stimmungsvoll – so könnte man seine Werke bezeichnen. Eine Bezeichnung, die auch auf seinen Lieblingsdarsteller und Weggefährten Michael Shannon zutrifft, der bei all seinen Filmen bislang dabei war. Auch in Midnight Special spielt Shannon eine tragende Rolle. Er ist der Vater eines kleinen, flüchtigen Jungen mit übernatürlichen Fähigkeiten. Hinter diesem Jungen, der in Codes spricht und Satelliten vom Himmel herunterfallen lässt, ist natürlich auch die Regierung her, weswegen der Film so etwas wie ein Sci-Fi-Roadmovie ist. Die tolle Filmmusik erinnert bewusst an Carpenter, und ist atmosphärisch sehr gelungen. Am Ende versucht Nichols jedoch für das Unvorstellbare Bilder zu finden, was nicht nötig gewesen wäre und ihm den ganz grossen Wurf leider verwehrt.
Im einzigen deutschen Wettbewerbsbeitrag, 24 Wochen von Anne Zohra Berrached geht es ebenfalls um zwei äusserst besorgte Elternteile. Nur ist ihr Kind, um das sie sich sorgen, noch gar nicht geboren. Als man bei ihrem Ungeborenen Trisomie 21 feststellt und auch ein Herzleiden diagnostiziert, stellt sich die Frage eines Schwangerschaftsabbruchs. Das Prunkstück des Films sind die beiden Hauptdarsteller Julia Jentsch und Bjarne Mädel, denen eine äusserst glaubhafte Darstellung eines Paars gelingt, dem eine schicksalhafte Aufgabe auferlegt wird, die es auf eine harte Bewährungsprobe stellt. Das gelungene Schauspiel und das authentisch aufgezeigte sowie detailliert aufbereitete Thema können jedoch nicht ganz über dramaturgische Schwächen des Drehbuchs hinwegtäuschen. Übrig bleibt ein guter Film, der aufklärerische Wirkung hat, teils jedoch nicht den richtigen Rhythmus findet; länger erzählt, wo er sich kürzer fassen könnte und umgekehrt.
Soy Nero hätte eigentlich ein toller Film werden können. Der aus dem Iran stammende Regisseur Rafi Pitts splittet seinen Film aber in zwei Teile, die nicht so ganz zusammenpassen wollen. Nero ist ein junger Mexikaner, der, nach seiner Ausschaffung aus den USA, illegal nach Mexiko in die Staaten zurückkehrt. Auf der Suche nach seiner Identität findet er seinen Bruder in einer Villa in Beverly Hills wieder. Doch der Schein trügt und Nero muss sich einen anderen Weg suchen, um in den USA bleiben zu können. Als sogenannter Green Card-Soldat zieht er für die USA in den Krieg nach Afghanistan – sein Lohn: die Staatsangehörigkeit bei der Rückkehr. Während die erste Hälfte sich mit dem Thema „Arm trifft auf Luxus“ beschäftigt und sich interessant hätte weiterspinnen lassen, macht der Film bald einen Bruch und zeigt den Kriegsalltag, wie man ihn aus anderen Filmen und Serien zuhauf und meistens schon glaubwürdiger gesehen hat. Ausserdem bleibt die wortkarge und hintergrundlose Hauptfigur zu blass, als dass man als Zuschauer genügend Mitgefühl für ihre ausweglose Situation aufbringen würde.
Entdeckungen aus den Nebensektionen
Natürlich gab es auch wie jedes Jahr in den Nebenreihen viel zu entdecken – allen voran im Panorama und im Forum. Wie schon The Guard und Calvary stellte John Michael McDonagh auch seinen dritten Film War on Everyone in Berlin vor. Dieses Mal zwar ohne Brendan Gleeson im Schlepptau – dafür mit Alexander Skarsgård und Michael Peña als zwei der politisch unkorrektesten Cops der Filmgeschichte. Das verspricht schon die erste Szene, als sie mit ihrer breiten Karre um die Kurve donnern und einen flüchtigen Pantomimen (!) ganz bewusst über den Haufen fahren. Den Tarif gibt McDonagh von Beginn an durch. Dennoch braucht es eine Weile, bis man sich an die krasse Gangart des Films gewöhnt hat – vielleicht weil die beiden Hauptdarsteller ihre Rollen mit einer solchen Gelassenheit und Coolness spielen, die auf eine skurrile Art irgendwie ernst gemeint wirkt. Jedenfalls kann der Film viel Spass machen, wenn man sich darauf einlassen will.
Der erfolgreiche Produzent James Schamus (Brokeback Mountain) präsentierte mit Indignation seine erste Regie-Arbeit. Der Film ist ein handwerklich hervorragendes Coming-of-Age-Drama, das mit einer subtil Unbehagen schaffenden Stimmung an der Oberfläche der sterilen 50er-Jahre kratzt. Logan Lerman und Sarah Gadon brillieren in den Hauptrollen. Lerman spielt einen hochbegabten, eloquenten aber ebenso exzentrischen jungen Mann, der aus einer jüdischen Arbeiterfamilie stammt. Sein Umgang mit den Mitmenschen lässt zu wünschen übrig. Neu im College angekommen, ergattert lediglich die hübsche Olivia seine Aufmerksamkeit. Dann aber entpuppt sich Olivia als leicht zu habendes Mädchen mit psychischen Problemen. Schamus gelingt ein starkes Drama, das die Spiessigkeit der 50er-Jahre mit Themen wie der sexuellen Repression gekonnt entlarvt. Besonders hervorzuheben sind die starken Dialogszenen, die teils mehrere Minuten dauern und den Schauspielern eine ideale Plattform bieten, ihr Können unter Beweis zu stellen.
Kate Plays Christine ist eine dokumentarisch-experimentelle Herangehensweise an ein tragisches Ereignis, das sich im Jahre 1974 zugetragen hat. Die TV-Reporterin Christine Chubbuck wandte sich damals in einer Live-Sendung mit folgenden Worten an ihr Publikum: „In keeping with Channel 40’s policy of bringing you the latest in ‘blood and guts’, and in living color, you are going to see another first – attempted suicide.“ Danach folgte ein Kopfschuss mit tödlichen Folgen. Die Aufnahmen wurden nie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sidney Lumet nahm jedoch 1976 in seinem Meisterwerk Network Bezug auf diesen Vorfall, der als erster Selbstmord vor laufender Kamera in die Geschichte einging. Robert Greene folgt in seinem Dokumentarfilm der Schauspielerin Kate Lyn Sheil, die in einer TV-Show die Rolle der Christine Chubbuck spielen soll und sich mental sowie körperlich darauf vorbereitet. Die Gespräche,die Kate mit Leuten über Christine führt und die reflektierend-empathische Vorbereitungsarbeit der jungen Schauspielerin, bieten eine mehrstufige Sichtweise auf das Leben und die Person, die den meisten nur aufgrund ihrer letzten Handlung bekannt war.
Die 67. Filmfestspiele finden vom 9. bis 19. Februar 2017 statt.
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