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Locarno 2016 – Altmeister, Osteuropa und Entdeckungen

25/08/2016 By Groarr Leave a Comment

pardo-d-oro

(dap)

Wer im August nach Locarno ans Festival kam, durfte einen spannenden Mix aus aktuellem Autorenkino, wohl ausgesuchten Klassikern und vielen Entdeckungen erwarten. Stilistische Trends und neue Erzählformen des aktuellen Weltkinos werden im Hauptwettbewerb wie auch im Newcomer-Wettbewerb Concorso Cineasti del presente gezeigt. In diesem Jahr hat sich Locarno darüber hinaus auch den B-Movies und Exploitationfilmen verschrieben – und das nicht etwa durch die Auswahl im Wettbewerb, wo sich das Genre höchstens als Referenz oder Variation zeigte. Nein, vielmehr durch die Auswahl des Rahmenprogramms und der eingeladenen Gäste. So kamen Grössen des kontroversen und subversiven Kinos wie Alejandro Jodorowsky, Roger Corman, Gaspar Noé und Dario Argento nach Locarno und mischten das Festival mit provokanten Aussagen und denkwürdigen Auftritten auf. Sie verliehen dem wichtigen Anlass das gewisse Etwas.

Roger Corman wurde für sein Lebenswerk geehrt und als Galionsfigur des Independent-Kinos vorgestellt. Mit einem guten Händchen für gewinnbringende Finanzierungsmöglichkeiten hat Corman in seiner Karriere über 400 (!) Filme produziert und bei mehr als 50 Filmen Regie geführt. Er verhalf Talenten wie Francis Ford Coppola, Ron Howard oder Martin Scorsese zum Start einer grossen Karriere. Corman ist aber vor allem auch eine Genre-Grösse und hat mit Filmen wie The Little Shop of Horrors und House of Usher schon seit den 50er-Jahren für Angst und Schrecken auf der Leinwand gesorgt. Interessanterweise zeigte man in Locarno mit The Intruder einen Film, der finanziell gesehen, Cormans einziger Misserfolg war, wie er selbst erwähnte, ihm jedoch später als Meisterwerk attestiert wurde. Der Film war seiner Zeit voraus und handelt klug vom Thema der Rassendiskriminierung in einer US-amerikanischen Kleinstadt und zeigt einen jungen William Shatner in einer ersten Hauptrolle.

©Pascale Montandon Jodorowsky

©Pascale Montandon Jodorowsky

„Jodos“ grosser Auftritt

Mit Alejandro Jodorowsky holte man einen ganz besonderen Filmkünstler ins Tessin. Das hat sich bei seinem Forumsgespräch vor öffentlichem Publikum schon vor seiner Ankunft angedeutet. Es herrschte eine knisternde Vorfreunde auf den grauhaarigen Altmeister. Manch einer kam sogar verkleidet als „The Alchemist“ – eine von Jodorowsky selbst verkörperte Figur aus The Holy Mountain. Als der chilenische Kultregisseur endlich unter tosendem Applaus Platz nahm, legte er auch sogleich richtig los. Dass Film nur eines seiner künstlerischen Ausdrucksmittel ist, verdeutlicht sich, wenn Jodorowsky – in gebrochenem Französisch, aber jeden Klang der einzelnen Worte ausreizend – zu sprechen beginnt und über Gott und die Welt erzählt. Leidenschaft, Lebensfreude und sicher auch ein bisschen Verrücktheit kommen da zum Vorschein. So nahm die „Konversation“ fortnehmend obskurere Züge an: eine junge Frau aus dem Publikum dankte Jodorowsky etwa dafür, ihr verdeutlicht zu haben, was Freude bedeutet, und bat um eine Umarmung des 87-jährigen Künstlers. Ein junger Mann ging noch einen Schritt weiter und bat „Jodo“ darum, ihn und seine Freundin vor Publikum zu trauen. Jodorowsky machte mit seiner munteren Schamanenhaftigkeit natürlich mit und sorgte für mehr als eine Stunde pure Unterhaltung ganz ohne Leinwand.

oc912928_p3001_220740Gaspar Noé: Opium fürs Volk

Aus einem anderen Holz ist der argentinische Skandal-Regisseur Gaspar Noé geschnitzt. Mit Filmen wie Irréversible, Seul contre tous und zuletzt mit Love hat Noé weltweit das Kinopublikum provoziert, mit erstgenanntem Film ja sogar – so die Legende – die Premieren-Besucher in Cannes teilweise zur Ohnmacht getrieben. Doch auch wenn seine Filme sich wie ein Schlag in die Magengrube anfühlen, wirkt der Regisseur als Person ganz anders. Ihm ist zwar durchaus anzumerken, dass ihm sein Ruf gefällt, und das spiegelt sich dann auch in seinen Aussagen wieder. Aber Gefahr oder Unbehagen strahlt er nicht aus – eher eine gewisse Gemütlichkeit und die freakige Art eines Filmnerds (Er trug ein T-Shirt des Genre-Klassikers Henry: Portrait of a Serial Killer). Eingeladen wurde er, um über Filmmusik zu sprechen, darauf hatte er jedoch keine Lust, wie er klarstellte. Auch wolle er nicht mehr über Love sprechen, da er das schon seit über einem Jahr tue. Darum erzählte Noé von seinen Erfahrungen mit Drogen, empfahl dem Publikum insbesondere Opium auszuprobieren, warnte vor peruanischen Schamanen, die Touristinnen vor den Augen ihrer unwissenden Freunden missbrauchten; und erzählte nebenbei auch viel über Film. Zum Beispiel, dass man Produzenten anlügen müsse, um das nächste Filmprojekt realisieren zu können, oder dass man unfähige Set-Mitarbeiter gleich schon am Anfang einer Produktion feuern sollte, bevor sie die ganze Stimmung vermiesen. Auch erzählte er über seine Leidenschaft für Kenneth Anger, vor allem für dessen Inauguration of the Pleasure Dome und nannte Lynch und Kubrick als seine Vorbilder. Kurz plauderte er über sein Abendessen mit Dario Argento und die Bewunderung für dessen Werke.

Dario Argento wurde bereits vor zwei Jahren in Locarno mit einem Preis geehrt, und durfte in diesem Jahr beim Festival als Jury-Präsident der Kategorie „Cineasti del Presente“ teilnehmen. Sein Giallo-Meisterwerk Suspiria wurde zu seinen Ehren aufgeführt.

Osteuropäische Filme dominieren

oc901048_p3001_217832Der rumänische Regisseur Radu Jude war vor Festivalbeginn so etwas wie der heisseste Kandidat auf den Goldenen Leoparden. Nachdem er im letzten Jahr auf der Berlinale den Silbernen Bären als bester Regisseur für Aferim! gewann, waren die Erwartungen an sein Folgewerk entsprechend hoch. Doch noch bevor Inimi cicatrizate in Locarno gezeigt wurde, hatte bereits der polnische Beitrag Ostatnia Rodzina sowie die mehr bulgarisch als griechische Ko-Produktion Salva auf die Stärken des osteuropäischen Kinos aufmerksam gemacht. „Osteuropa erzählt einfach besser“ titelte Susanne Ostwald von der NZZ zwischenzeitlich, und hob die „geradlinigen Erzählungen“ der osteuropäischen Filmschaffenden hervor. Judes Film – gedreht in einem 4:3-ähnlichen Format – beruht auf den Erzählungen des Schriftstellers M. Blechers und erzählt von einem jungen Mann, der von seinem Vater in eine Heilklinik gebracht wird, um von Knochentuberkulose geheilt zu werden. Wie schon beim Vorgänger taucht Jude in die Geschichte seines Landes ein und weiss die Gegebenheiten der 1930er-Jahre präzise aufzuzeigen. Mit seinem Auge fürs Detail schildert er aus heutiger Sicht monströs wirkende Apparaturen im Sanatorium und zeichnet mit intelligenten Dialogen und facettenreichen Figuren ein genaues Bild der damaligen Zeit – so findet beispielsweise auch die politische Entwicklung Nazi-Deutschlands Einzug in die Diskussionen der Patienten. Jude gelingt es eine Schwere Geschichte mit einer Leichtigkeit umzusetzen, die über zwei Stunden bestens unterhält.

Godless - Ralitza Petrova. Gewinner "Goldener Leopard 2016".

Godless – Ralitza Petrova. Gewinner “Goldener Leopard 2016”.

Godless beginnt mit einer einprägenden, bedeutungsschweren Szene, die am Ende wieder aufgegriffen wird. Die Kamera bewegt sich durch eine dunkle, feuchte Felsspalte. Jemand wurde dort zurückgelassen. Deponiert. Ein Auto fährt davon, offenbar sind es jene Leute, die den Beseitigten dort hingebracht haben. Die Kamera ist vom Auto heraus auf die Strasse gerichtet und man sieht den Weg, den das Auto zurücklegt durch die Rückscheibe. Ein Hund folgt dem Auto, rennt ihm im Eiltempo hinterher. Er vermutet sein Herrchen darin und gibt nicht auf, bis sein Körper nicht mehr kann. Seine Anstrengungen sind vergebens, hoffnungslos. „Hoffnungslos“ hätte ebenfalls gut als Titel für diesen Film gepasst. Die Bulgarin Ralitza Petrova zeichnet in ihrem Debütfilm ein düsteres Bild ihrer Heimat. Lichtblicke gibt es in dieser Gegend keine, nur Armut, Korruption und Verderben. Die stämmige Protagonistin hat sich diesen Umständen angepasst. Die Altenpflegerin besucht ihre Patienten nicht nur, um Ihnen die dreckigen Laken zu wechseln oder das Mittagessen zu verabreichen, sie hat durchaus mehr im Sinn. Sie klaut ihnen die Ausweise und verscherbelt diese auf dem Schwarzmarkt. Das macht sie kaum, weil sie ein schlechter Mensch ist, sondern eher weil sie irgendwie überleben muss. Auch wenn sich auf ihrer getrübten Mine kaum Regungen erkennen lassen, gibt es Momente, in denen Gana – so ihr Name – zeigt, dass sie ihr Umfeld noch nicht völlig abgestumpft hat. So bietet sie dem Nachbarskind Unterschlupf als dieses von der Mutter allein gelassen wird; und entwickelt Sympathien für einen ihrer Patienten, für dessen Musikbegeisterung sie schon bald ebenfalls Interesse entwickelt. Aber Gott hat diese Gegend wohl längst von seiner Landkarte gestrichen. Und so wartet am Ende nur die Felsspalte. Der bedrückende Film erhielt den Goldenen Leoparden. Irena Ivanova wurde als beste Darstellerin ausgezeichnet.

oc901240_p3001_217897O Ornitólogo ist ein Film vollgepackt mit Referenzen und Zitaten. Zunächst ist man ein bisschen verwirrt, vor allem wenn man sich mit dem portugiesischen Mythos des Heiligen Sankt Antonius nicht auskennt. Der Film schafft es jedoch sich ins Gedächtnis des Zuschauers einzubrennen und immer wieder hervorgeholt zu werden. Grundsätzlich handelt die Geschichte von Fernando, einem Ornithologen – also einem Vogelwissenschaftler -, der sich im portugiesischen Hinterland einer bedrohten Vogelart, nämlich den Schwarzstörchen widmet. Mit dem Kajak unterwegs und fernab der Zivilisation beginnt sein Abenteuer erfolgreich, bis er jedoch zwei sadistischen Chinesinnen, die vom Jakobsweg abgekommen sind, im Wald begegnet. Kurz darauf wird er von den beiden Frauen gefesselt, und man erfährt, dass sie noch viel Schlimmeres mit ihm vorhaben. Was sich jedoch zunächst als Backwood-Thriller anhört, entpuppt sich bald als etwas ganz anderes. Der Ornithologe kann sich aus den Fesseln befreien und macht fortan weitere kuriose Begegnungen im Wald: als Vögel verkleidete Feuermacher, ein taubstummer Ziegenhirte (mit dem er Sex hat) und barbusige Amazonen, die auf ihren Pferden daher geritten kommen. Es beginnt eine traumhafte Verwandlung von Fernando. O Ornitólogo von João Pedro Rodrigues ist traumwandlerisches Qualitätskino und bietet viel zu entdecken.

oc901291_p3001_217920Bangkok Nites war mit etwas mehr als drei Stunden der längste Film des diesjährigen Wettbewerbs – aber auch einer der kurzweiligsten. Der Japaner Katsuya Tomita kehrt nach Locarno zurück, nachdem er bereits 2011 mit Saudâji in den Wettbewerb eingeladen wurde. Sein neuer Film ist ein inner-asiatischer Blick auf das Nachtleben Bangkoks. Im Zentrum steht die Prostituierte Luck und ihr japanischer Freund – gespielt von Tomita selbst. Luck ist für ihren Zuhälter so etwas wie das beste Pferd im Stall. Sie zieht die reichsten Kunden an Land und ist gleichzeitig Vorbild für die anderen Mädchen. Das gibt ihr gewisse Freiheiten und Privilegien. Genervt von einzelnen Kunden kommt es vor, dass sie diese schon mal einfach so ablehnt. Sie besucht auch ihre Familie auf dem Land, wenn es ihr passt. In ihrem Heimatdorf ist ihre Rolle jedoch gespalten. Einerseits ist sie die grosse Schwester und jene, die das Geld nachhause bringt. Andererseits ist sie diejenige, die ihren Körper in der Grossstadt zum Kauf anbietet. Diese Doppelrolle wird glaubwürdig und realistisch dargestellt, und ist gleichzeitig auch eine reale Analogie auf einen der wichtigsten Industriezweige Thailands: so ist Prostitution dort zwar illegal, wird aber zugleich von den Behörden geduldet. Tomita erzählt seine Geschichte glaubwürdig und mit japanischer Hochachtung vor fremden Kulturen. Das Milieu wird entsprechend akkurat inszeniert, jedoch zu keinem Zeitpunkt auf seine potentiell vorhandenen Schauwerte reduziert, wie man es vielleicht von einer westlichen Produktion eher zu sehen bekäme.

Wie die Grossen

oc905119_p3001_219053In der zweiten Wettbewerbssektion namens Concorso Cineasti del presente gilt es Entdeckungen zu machen. Denn hier darf nur teilnehmen, wer ein Erstlings- oder Zweitlings-Werk abliefert. Dass diese jedoch dem grossen Wettbewerb kaum in etwas nachstehen, ja teilweise sogar experimentierfreudiger sind und gewagtere Formen darbieten, zeigte sich auch in diesem Jahr. Da war zum Beispiel der griechische Film Afterlov – das Langfilmdebüt von Stergios Paschos. Der arbeitslose Musiker Nikos erzählt dem Zuschauer darin direkt zu Beginn, dass er über seine Ex-Freundin noch nicht hinweggekommen ist und dass er sie überzeugen will, zu ihm zurückzukehren. Er nistet sich in der Villa eines Bekannten ein und lockt seine Ex dorthin, um mit ihm ganz im Stile der Reichen ein paar Tage zu verbringen. Schon bald wird sich die junge Frau über die eigentlichen Absichten ihres eloquenten Ex-Partners bewusst, ist jedoch nicht abgeneigt, das Spielchen mitzuspielen. Es folgt ein kurzweiliges Zurückeroberungsschauspiel, in dem die beiden wiederholt die Rollen tauschen, sich gegenseitig kratzen, küssen, beissen, und am Ende minutenlang lieben. Stellenweise noch etwas ungeschliffen und irritierend, wenn man als Zuschauer direkt angesprochen wird, ist es einfach ein Vergnügen diesem ungewöhnlich Paar bei der ruppigen Versöhnung zuzuschauen.

oc898403_p3001_216991Sie sind zwar kein Paar aber auch in Donald Cried geht es um das Wiederaufwärmen einer eingefrorenen Beziehung. Der Film von Kris Avedisian war die einzige eigenständige US-Produktion, die in einem der beiden grossen Wettbewerbe lief. Der beruflich erfolgreiche Peter kehrt nach dem Tod seiner Grossmutter in seine Heimatstadt zurück: ein verschneites Provinzkaff, wo er einst aufwuchs, nach der High School jedoch so schnell wie möglich einen Abflug machte. Wäre die Rückkehr aufgrund der traurigen Ereignisse nicht schon schlimm genug, geht ihm auch noch das Kleingeld aus und sein Handy-Akku macht auch nicht mehr lange. Peter steckt fest. Es kostet ihn ein bisschen Überwindung, doch dann klingelt er an der Haustür seines Nachbars und Jugendfreunds Donald (gespielt von Regisseur Kris Avedisian selbst). Bei dem scheint die Zeit wie stehen geblieben zu sein: längst die Dreissig überschritten, lebt Donald noch immer bei seiner Mutter und ist über die Gepflogenheiten eines Teenagers nicht hinausgekommen. Der Situation ausgesetzt und auf Donald angewiesen, lässt sich Peter auf seinen alten Kumpel ein. Und dieser scheint regelrecht auf ihn gewartet zu haben. Natürlich gibt er ihm nicht einfach das nötige Kleingeld, sondern die beiden begeben sich auf eine aberwitzige Odyssee durch die Vergangenheit. Der Film reizt die witzigen Momente – die vor allem von der schrulligen Figur Donald ausgehen – gekonnt aus, schafft es aber gleichzeitig auch die ernsten Momente glaubhaft darzustellen.

oc919750_p3001_223019Beim japanischen Beitrag Destruction Babies weiss man nicht so recht, ob man weinen oder lachen soll. Gezeigt hat sich das vor allem bei den unterschiedlichen Reaktionen des Publikums. Währendem die einen kopfschüttelnd den Saal verliessen, konnten sich die anderen ein mehrmaliges Auflachen nicht verkneifen. Verantwortlich für diese unterschiedliche Wahrnehmung sind vor allem die zahlreichen Gewalteruptionen, die den Film und die Story markant prägen. Tetsuya Mariko lässt seinen adoleszenten Protagonisten Taira gleich zu Beginn unter Beobachtung seines jüngeren Bruders von einer Jugendgang brutal verprügeln. Diese nicht abwendbare Niederlage lässt bei ihm eine Sicherung durchbrennen. Es beginnt ein Amoklauf durch die kleine Hafenstadt Mitsuhama. Während er von seinem kleinen Bruder gesucht wird, legt sich Taira mit jedem an, der ihm über den Weg läuft. Zwar nutzt Taira für seine willkürlichen Angriffe auf seine Mitmenschen im Regelfall nur die Fäuste, doch die rohe Gewalt und die realistische Darstellung tun schon nur beim Hinsehen weh. Da er nicht gerade der Kräftigste ist – aber unglaublich hartnäckig – muss auch er immer wieder einstecken. Später schliesst sich ihm eines seiner ersten Opfer an. Und da die beiden quasi eine ganze Besucherschaft einer Shopping Mall im Alleingang zusammenschlagen, erregt Taira bald schon mediales Aufsehen – auch weil seine Kämpfe auf Social Media die Runde machen. Unverblümte Gewaltdarstellung. Verrohung der Jugend. Mediale Ausschlachtung von Gewaltereignissen. Destruction Babies bietet einiges an Diskursmaterial.

oc900070_p3001_217504El auge del humano heisst aus dem Spanischen übersetzt in etwa „Der Aufschwung der Menschheit“. Dabei führt der erste Spielfilm von Eduardo Williams den Zuschauer an Orte, die man wohl eher nicht mit dem Begriff „Aufschwung“ in Verbindung setzen würde. Es sind drei Episoden, die in eine Wohnsiedlung in Buenos Aires, ein Slum in Mozambique und in ein Dschungelnahes Dorf in den Philippinen führen. In Argentinien und Afrika folgt man jeweils einem jungen Mann, während es in den Philippinen eine junge Frau ist. Man begleitet die Protagonisten auf ihrem Weg von hinten, läuft mit ihnen mit. Die Kamera bewegt sich fliessend und entwickelt einen starken Sog, dem man sich nach einer Weile kaum entreissen kann, sondern in die Umgebung miteintaucht. Die Perspektive erinnert dabei beispielsweise an Gaspar Noés Enter the Void, wo man der Geist-ähnlichen Hauptfigur im Wesentlichen auch von hinten folgt. Ebenso fühlt man sich teil an die Kameraarbeit von Emmanual Lubezki aus Tree of Life erinnert. In der letzten Szene der Mosambik-Episode folgt man dem Jungen hin zu einem Ameisenhaufen auf einem Feld. Die Kamera nähert sich fortwährend dem Objekt, bis sie darin eintaucht und in den Philippinen wieder zum Vorschein kommt. Das „Internet“ gilt als das verbindende Thema der drei Episoden – und auch der Titel kann als zynische Anspielung auf das Massenmedium verstanden werden. In expliziten Szenen stellen sich die Jungen aus Argentinien und Mosambik vor einer Cam im Internet zur Schau – der menschliche Körper als global einsetzbare Lust- und Einnahmequelle, ermöglicht durch die weltweite Vernetzung. Die Philippina sucht nach einem Bad im Dschungel ebenfalls ein Internetcafé auf, bewegt sich dabei an wilden Hunden vorbei, durch ein Dorf mit Strohhütten, um ihren Durst nach Zivilisation und Wissen zu stillen. Das Verfolgen der Kamera, die Handlungsorte aber auch die Protagonisten machen eine gewisse Bedrohung spürbar. Man hat das Gefühl ein Gewaltmoment könnte jederzeit auf sie einbrechen. Aber das bleibt aus. Eduardo Williams Film war eine vielfältige und ernstzunehmende Entdeckung. Unter Jurypräsident Dario Argento erhielt er den Pardo d’oro Cineasti del presente.

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