Dass der diesjährige Gewinner des Goldenen Bären im nächsten Jahr einen Oscar® gewinnt, ist unwahrscheinlich. Der semi-dokumentarische Film Touch Me Not von Adina Pintilie ist von der Kritik zwiespältig aufgenommen worden und dürfte mit seiner experimentellen Form auf eher wenig Gegenliebe bei der immer noch konservativen Academy stossen. Selbst bei der Berlinale wurde die Jury-Entscheidung zum Teil als mutig aufgenommen. Dabei passt dieser Entscheid und der Film gut zum Festival – und ist ein typischer Berlinale-Film, den es ja eigentlich nicht gibt. Wie schon in den Vorjahren geschehen, ist es nämlich auch dieses Jahr ein halbwegs dokumentarischer Film, der gewinnt. Jafar Panahi mit Taxi und Gianfranco Rossi mit Fuocoammare gelang dies schon 2015 und 2016. Auch kann man Touch Me Not ebenfalls als politischen Film einordnen. Während Panahi die iranischen Kunst- und Medienunterdrückung anprangerte und Rossi die Flüchtlingswelle thematisierte, kann Touch Me Not wie ein Kommentar zur aktuellen MeToo-Bewegung gelesen werden – das muss aber nicht zwingend sein. Pintilie lotet die Grenzen menschlicher Sexualität aus, indem sie die Hauptfiguren über einen Bildschirm in Form von Therapiesitzungen interviewt. Dass zum zweiten Mal in Folge eine Frau den Hauptpreis in Berlin gewinnt, ist positiv. (dap)
Nach der Berlinale ist vor den Oscars®
Setzt man die beiden Film-Events in Relation hinkt die Oscar®-Verleihung ein Jahr hinterher. Das ist vielleicht nicht ganz korrekt. Viel eher könnte man sagen, die Berlinale (und zuvor Sundance) ist ein früher Vorbote der Oscars®. Oder, sieht man die Oscars® als Gütesiegel an, so sind die Oscars® eine Art rückblickender Qualitätsindikator der Berlinale des Vorjahrs.
So betrachtet, ist die 2017er-Ausgabe der Berlinale im Nachhinein als Grosserfolg zu werten. Das chilenische Transgender-Drama Una Mujer Fantástica gewann den Oscar® als bester ausländischer Film. Der Gewinner des Goldenen Bären On Body and Soul war ebenfalls in der gleichen Kategorie nominiert. Das ist auch ein Sieg für Berlin im Vergleich zu Cannes. Denn das französische Top-Festival hatte mit The Square (Cannes-Sieger 2017) und Loveless ebenfalls zwei Vertreter im Rennen um den besten ausländischen Film. Überhaupt ist dieser “Ausland-Oscar®” so etwas wie eine Sonderehrung der vergangenen europäischen Festival-Saison. Und das war noch nicht alles: der Dokumentarfilm Strong Island von Yance Ford lief im Panorama Dokumente und war nun als bester Dokumentarfilm für den Oscar® nominiert. Und nicht zu vergessen: auch der grossartige Call Me by Your Name von Luca Guadagnino ist ein Berlinale-Veteran. So feierte der Film 2017 nach Sundance in Berlin seine Europapremiere. Nun erhielt er in Los Angeles einen Oscar® für das beste adaptierte Drehbuch (James Ivory) sowie drei weitere Oscar®-Nominationen – u.a. eine für den besten Film.
Diese Würdigungen auf Hollywood-Ebene kommen dem Berliner Festival zugute. Gerade von einer US-Perspektive aus betrachtet, sind die Oscars® nämlich immer noch eine grosse Sache – sowohl bei Kritikern und Newsportalen mit den lange andauernden Vorhersagen der Gewinner, aber auch als Marketing-Instrument: man denke nur an die Trailer, wo Schauspieler und Regisseure mit ihrer Academy Award-Ausbeute angepriesen werden. Kurzum: die Oscars® ziehen nach wie vor und wenn man da als Festival eine Rolle spielt, den Buzz ankurbelt, bringt das Aufmerksamkeit und Andrang. Und nicht zuletzt Rechtfertigung.
Das Interessante an diesem Zusammenspiel ist aber eben der zeitliche Faktor – der Reifeprozess von Filmen. Die Wertschätzung und Akzeptanz im Nachhinein, auch die Dynamik. Denn was der “normale” Kinozuschauer nicht weiss oder zumindest wenig Beachtung schenkt: viele Filme und Ihre Macher gehen wie Musiker und Bands auf Festivaltournee – und das lange bevor die Werke in die regulären Kinos kommen. Der Deutschschweizer Kinostart von Call Me by Your Name war der 1.3.2018. Auf der Berlinale wurde der Film schon am 13.2.2017 (!) gespielt – also mehr als ein Jahr zuvor. Und genau da liegt der Reiz und die Attraktivität eines guten Festivals. Nämlich in seinem exklusiven Vorrecht der Aufführungen. Als Besucher Zeuge von etwas Besonderem zu werden, ist toll. Etwas Meisterliches entdecken; und das noch vor allen anderen.
Um nochmal auf den Zeitfaktor zurückzukommen: nur wenige hätten Una Mujer Fantástica oder On Body and Soul wohl damals auf der Berlinale Chancen bei den Oscars® ausgerechnet. Das liegt einerseits an der Unterschätzung der Berlinale, geprägt von der Skepsis, dass sie Hervorragendes hervorbringt, was sie aber immer wieder tut. Ist aber auch dem schon erwähnten Reifeprozess geschuldet. Dass sich ein Film in den Köpfen der Betrachter weiterentwickeln muss und langfristig an Gehalt und Substanz hinzugewinnt, kommt meisterlichen Filmen auf die Dauer zugute. Anders betrachtet, kann ein Film natürlich auch in Vergessenheit geraten, wenn er die Qualität – in Erinnerung zu reifen – nicht hat.
Wer gewinnt nächstes Jahr den Oscar?
Aufgrund des Erfolges der 2017er-Generation ist natürlich die Erwartung an die diesjährigen Kandidaten gestiegen. Und da das Festival ja kurioserweise eben bereits vor Oscar®-Verleihung und der Ehrung der letztjährigen Berlinale-Gewinner stattfand, kann man sich fragen, geht auch im nächsten Jahr ein Goldmännchen an einen Berlinale-Film?
Abgesehen von Wes Andersons Animationsfilm Isle of Dogs (geehrt mit dem Silbernen Bären für die beste Regie) käme das eher überraschend. Allerdings ist es ja in der Kategorie der fremdsprachigen Filme so, dass dioese pro Land eingereicht werden. Das bedeutet, grosse Kinoländer wie Frankreich oder Italien haben in dieser Kategorie auch nur einen Kandidaten am Start. Das wiederum sorgt dafür, dass kleine Filmländer mit nur einem starken Film im Jahr verhältnismässig gute Chancen haben. Und da sind wir auch schon bei den Berlinale-Filmen, die sich hinter Touch Me Not die Plätze zwei und drei teilten. Der polnische Film Twarz von Małgorzata Szumowska über einen Mann in einer Identitätskrise, nachdem er sich für ein Gesichtsimplantat entschieden hat, kam gut an. Der andere Film heisst Las Herederas und stammt aus Paraguay. Marcelo Martinessis Debütfilm steht in der Tradition südamerikanischer Filme, die in den letzten Jahren immer wieder in Berlin überzeugten. Allen voran Sebastián Lelio mit Gloria und Una Mujer Fantástica aber auch Pablo Larraín mit The Club oder Jayro Bustamente mit Ixcanul. Das gegenwärtig hohe Standing südamerikanischer Filme (auch hier ein Blick in Richtung Oscars®: Iñárritu, Cuarón und del Toro) wird auch durch die Berlinale bekräftigt. Und Las Herederas ist da ein weiteres kleines Schmuckstück. Mit viel Gespür für seine Charaktere erzählt Martinessi sein Drama über ein älteres lesbisches Paar, das in eine finanzielle Krise schlittert. Der Film ist eine politische Parabel und zeichnet ein genaues Bild zwischen dem Umbruch von vergangenem Reichtum und neuer Armut. Es war ein Lichtblick in einem durchwachsenen Wettbewerb.
Im Durchschnitt durchschnittlich
Keine Preise der Internationalen Jury gab es für den deutschen Film (Ko-Produktionen zählen nicht). Thomas Stuber mit In den Gängen, Philip Gröning mit Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot, Emily Atef mit 3 Tage in Quiberon und Christian Petzolds Transit gingen alle leer aus. Dabei hätte sich zumindest in Petzolds Film Franz Rogowski für eine Ehrung seiner schauspielerischen Leistung qualifiziert. Die Buchverfilmung erzählt von einem deutschen Flüchtling in Marseille, der sich von der näher rückenden Nazi-Invasion nach Übersee retten will. Der Film überzeugt mit seiner Atmosphäre und seinem Anachronismus. Die Geschichte von damals wird in das Marseille von heute verlegt, was wiederrum Parallelen zur aktuellen Flüchtlingskrise weckt. Die ebenfalls enthaltene Liebesgeschichte ruft zudem Casablanca in Erinnerung. Jury-Präsident Tom Tykwer fand aber offenbar nur wenig Gefallen an den aktuellen Werken seiner Landsleute.
Dass Berlinale-Chef Dieter Kosslick ähnlich wie sein Cannes-Pendant Thierry Frémaux an seinen langjährigen Freundschaften festhält, machten die Wettbewerbs-Einladungen der neuen Filme von Steven Soderbergh (Unsane) und Gus Van Sant (Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot) deutlich. Grosse Namen aber keine grossen Filme – viel eher Gefälligkeitsdienste beiderseits. Zumindest hatte Soderbergh mit Unsane etwas Genre in den Wettbewerb reingebracht, was leider immer noch viel zu selten in Berlin der Fall ist. Das Interessanteste an seinem eher durchschnittlichen Psychothriller bleibt aber die Form: gedreht wurde der Film mit Claire Foy in der Hauptrolle ausschliesslich mit dem iPhone.
Apropos Genre. Ein richtig guter Genrefilm war einer, der eigentlich keiner sein darf: Utøya 22. Juli erzählt vom Massenmord auf der norwegischen Insel Utøya, wo Anders Breivik im Jahr 2011 69 Menschen getötet hat – vorwiegend Kinder und Jugendliche. In einer 72-minütigen Plansequenz gefilmt, folgt man der fiktiven Protagonistin Kaja durch den Kugelhagel und vermeintliche Schlupflöcher der Insel. Der Mörder bleibt gesichtslos. Der Horror wird erfahrbar und funktioniert wie auf einer Achterbahnfahrt. Die sich bewegende Kamera nimmt den Zuschauer mit auf einen Höllentrip. Doch muss man als Kinozuschauer diese Erfahrung machen? Muss man miterleben, was die Opfer wohl durchmachen mussten, um nicht zu vergessen, dass rechtsradikale Ideologien zu blankem Horror führen können? Zumindest scheint dies ein Anliegen von Regisseur Erik Poppe zu sein, wie er an der Pressekonferenz erklärte. Akribisch hat er sich mit dem Fall beschäftigt und Zuspruch von Hinterbliebenen und Überlebenden erhalten. Wäre eine dokumentarische Verarbeitung aber nicht die moralisch sinnvollere Annäherung gewesen? Der Film beschäftigt einen, seine Umsetzung ist aber zumindest diskussionswürdig.
Lav Diaz war der einzig asiatische Vertreter im Wettbewerb. Nachdem er in Locarno, Venedig und letztes Jahr auch in Berlin reüssierte, sprang in diesem Jahr kein Preis für den philippinischen Meister heraus. Sein vierstündiges – für Diaz verhältnismäßig kurz – Schwarzweiss-Musical ganz in unverkennbarem Stile fand eher wenig Beachtung. Mehr Aufmerksamkeit erhielten asiatische Filme in den Nebenreihen. River’s Edge von Isao Yukisada gewann u.a. den Publikumspreis des Panoramas und lobende Worte gab es für den chinesischen Film An Elephant Sitting Still von Hu Bo, der sich tragischerweise mit nur 29 Jahren Ende letzten Jahres das Leben nahm.
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